Zeit zu zweit

Früher war es üblich, dass sich Kalb und Mensch die Milch teilten. Heute ist das nicht mehr so. Doch die Mutter-Kalb-Haltung ist kein verklärtes Zurück zu den Anfängen der Milchgewinnung. Sie entspricht heutigen Standards. Die Vision: Eine Partnerschaft nicht nur zwischen Tier und Mensch, sondern auch zwischen Bäuerinnen und Konsumenten.

Zeit zu zweit: Milchkuh mit ihrem Kalb. Die Mutter-Kalb-Haltung wird oft mit Mutterkuhhaltung verwechselt, einem Haltungssystem aus der Fleischproduktion. Foto: Maurice Sinclair

Damit Milch fliesst, muss eine Kuh ein Kalb gebären. Doch unmittelbar nach der Geburt sind die Mutterfreuden für die meisten Milchkühe in der Schweiz vorbei. Das Kalb wird oft am ersten Tag von seiner Mutter getrennt, Milch erhält es aus dem Nuckeleimer. Nach üblicherweise drei Wochen verlassen die meisten (männlichen) Kälber den Geburtsbetrieb. Hier unterscheiden sich die Richtlinien für konventionelle, Bio- und Demeter-Höfe kaum. Nur das Aldi Suisse-Label «retour aux sources» geht aktuell weiter und sieht die Aufzucht der Kälber auf dem Geburtsbetrieb vor. Demeter plant ab 2030 die verpflichtende Aufzucht der Kälber auf einem biodynamischen Hof. Die sofortige Trennung von Mutter und Kalb ist aber auch da in beiden Fällen erlaubt.

20 der 17’603 Milchbäuerinnen und -bauern machen es anders. Bei ihnen dürfen Milchkühe wieder Mütter sein.

Zurück zur Partnerschaft

«Wir hatten bei der Umstellung viele praktische Fragen. Für die Kühe war es einfach normal.» Stefan und Evelyn Scheidegger. Foto: Maurice Sinclair

«Als ich als Quereinsteigerin auf den Hof kam, hat diese Trennung von Mutter und Kalb für mich nicht gestimmt», erzählt Evelyn Scheidegger. Sie betreibt mit ihrem Mann Stefan einen Bio-Milchviehbetrieb in Signau. «Also habe ich recherchiert, in Deutschland einen Hof besucht, der Mutter-Kalb-Haltung praktiziert, und dann haben wir es versucht: Zuerst mit einem Kalb, dann hat es uns so gut gefallen, dass wir nicht mehr aufgehört haben.» Schnell merken Evelyn und Stefan, dass die Kühe keine Mühe mit der Umstellung haben. Mit der Erfahrung verfeinern Scheideggers das System: Unmittelbar nach der Geburt sind Kuh und Kalb rund um die Uhr beisammen, dann reduziert sich über 4–6 Monate in kleinen Schritten die gemeinsame Zeit. «Schlussendlich entscheiden die Kühe, wie lang sie ihre Kälber saugen lassen. Je sanfter der Übergang, desto problemloser», so Evelyns Erfahrung.

Tierärztin Cornelia Buchli von der Fachstelle MUKA berät und unterstützt Betriebe bei der Umstellung auf die Mutter-Kalb-Haltung (kurz: MuKa). «Milchkühe sämtlicher Rassen kümmern sich instinktiv und sehr fürsorglich um ihr Kalb», so Buchlis Erfahrung. Die hygienischen Vorbehalte aus der Branche kann sie nicht bestätigen: «Milch aus MuKa kann bedenkenlos abgeliefert und konsumiert werden. Wissenschaftliche Studien und die Praxis zeigen, dass die Zellzahlen der Mütter mit Kälberkontakt nicht höher sind – im Gegenteil: Der Kälberkontakt beeinflusst die Eutergesundheit eher positiv. Die Kälber sind gute Melker. Kühen ihre Kälber zu lassen und sie zu melken, funktioniert grundsätzlich!» Evelyn Scheidegger beobachtet zudem, dass die Kälber rascher zunehmen, vitaler sind und sich ohne Medikamente und schneller erholen, wenn sie doch krank werden.

Nicht ohne Herausforderungen

So problemlos die Umstellung für die Tiere, MuKa ist kein Selbstläufer. Das bestätigen die Bäuerin wie auch die Tierärztin. «Die grösste Herausforderung ist die finanzielle Kompensation der Umsatzeinbussen, da die Milch während Monaten mit den Kälbern geteilt wird», so Cornelia Buchli. 20–30 % weniger Milch bedeutet das im Tank. Dazu kommen oft bauliche Anpassungen am Stall. Wenn die Jungtiere 3–6 Monate auf dem Geburtsbetrieb bleiben, trinken sie nicht nur mehr Milch, sie brauchen auch mehr Platz. Zudem braucht es Adaptionen beim Management, z.B. damit die Kälber beim Melken bei den Müttern sein können. «Das muss bei der Umstellung und einem allfälligen Stall(um)bau unbedingt berücksichtigt werden», so Evelyn Scheidegger.

Die Mutter-Kalb-Haltung lässt sich skalieren und funktioniert auch in grösseren Betrieben und mit Melkrobotern. Foto: Maurice Sinclair

Die Betriebswirtin ist Präsidentin des Vereins Cowpassion, den sie gegründet hat. Voraussetzung war die Schaffung der rechtlichen Rahmenbedingungen, damit Kuhmilch aus MuKa legal vermarktet werden kann. Bis im März 2020 bestand eine Rechtsunsicherheit. Nun ist «Cowpassion» als Marke geschützt. Die Vermarktung der Produkte und Sensibilisierung sind Hauptaufgaben des kleinen Vereins. «Wir erleben oft, dass Interesse und Wille für MuKa da sind, gerade bei der jüngeren Generation, häufig auch bei den Frauen», erzählt Evelyn. «Sie lassen sich beraten, merken dann aber, dass die Umstellung zu teuer wird. In etwas zu investieren, das weniger Umsatz bringt, ist schon sehr viel verlangt.» Ein kostendeckender Milchpreis ist ein Weg, MuKa vorwärts zu bringen.

Fair Trade für alle

Das Produktionsreglement von Cowpassion verlangt, dass alle Kälber täglich bei der Mutter saugen dürfen, bis sie mind. vier Monate alt sind. Die Einzelhaltung ist verboten. Der Betrieb muss Bio-zertifiziert sein. Anbindestall ist nur bei Hornkühen und in Kombination mit Weidegang und dem RAUS Programm erlaubt. Damit erfüllt das Label sowohl Kriterien des Tierwohls als auch der Ökologie und ist umfassender als andere Gütesiegel. Trotzdem: Es gibt Widersprüche, gerade bei der Hörnerfrage. «Da sind wir nicht konsistent, darauf werden wir auch angesprochen», räumt Evelyn ein. «Wenn wir Hörner verlangen würden, hätten wir aktuell allerdings keine Produzenten. Schon Bio ist eine Hürde. Mir ist bewusst, dass wir noch von der perfekten Lösung entfernt sind. Wir versuchen einfach, MuKa durch einen fairen Milchpreis zu ermöglichen und uns bei den restlichen Aspekten laufend weiterzuentwickeln.»

Von Beginn weg hat der Verein den Schwerpunkt auf die Nähe zwischen den Produzentinnen und Konsumenten gelegt. Über ein Abo für Cowpassion-Käse aus Hofproduktion war es möglich, eine Kundschaft aufzubauen – aus der ganzen Schweiz, vor allem aber aus den Städten. «Viele Konsumentinnen sind bereit, einen angemessenen Preis für Milchprodukte zu zahlen, wenn die Milchkuh ihr Kälbchen behalten darf und auch ökologische Standards erfüllt werden», so Evelyns Erfahrung. Doch der Aufpreis muss dem Betrieb und damit der Sache zugutekommen – Fair Trade für alle Beteiligten. «Konsumentenseitig gibt es viel Dynamik», ist Evelyn Scheidegger überzeugt. Trotzdem: Das Angebot muss zum Einkaufsverhalten der Konsumenten passen. So war der Versuch mit einem Milchautomaten kein Erfolg. Das Abo hingegen funktioniert.

Nächster Schritt: Käserei

Die Cowpassion-Käserei in Vechigen wird ausschliesslich MuKa-Milch verarbeiten. Damit ist die Transparenz garantiert. Foto: Maurice Sinclair

Allerdings war das Sortiment auf Dauer zu klein. «Also haben wir unsere Kundinnen gefragt, ob sie ein Käsereiprojekt unterstützen würden», erzählt Evelyn. Das Kapital kam zusammen, ein geeignetes Gebäude wurde gefunden. «Nun haben wir eine Käserei in Konsumentenhand», freut sie sich. 2024 beginnt in Vechigen (BE) die Produktion. Der kostendeckende Milchpreis ist in den Statuten festgehalten: Fr. 1.30 pro Liter sind es aktuell. Gestartet wird mit einer Handvoll Lieferanten aus der Umgebung und einem kleinen Sortiment. Wenn es gut läuft, kann das Angebot ausgebaut werden. Für Molkereiprodukte bräuchte es jedoch neue Vertriebskanäle, z.B. in die Stadt Bern – Angebote sind willkommen. Dass die Käserei zustande kam, ist ein wichtiger Schritt. Doch Evelyn ist realistisch: Das hilft einer Handvoll Betriebe. «Um alle zu unterstützen, bräuchte es Beiträge vom Bund. Das heutige Landwirtschaftsgesetz würde dies zulassen. Das BLW will davon aber (noch) nichts wissen.»

Zurück in die Praxis, wo bereits weitergedacht wird. Der Verein hat das Projekt «Cowpassion Lifetime» lanciert, das MuKa mit einem Lebenshof für die kleinen Munis und die älteren Kühe kombiniert. Zudem gibt es Versuche mit längeren Laktationsperioden – 1,5 Jahre zwischen den Geburten statt dem heute gängigen Jahr. Das würde dem erhöhten Platzbedarf im Stall dienen und ist gemäss Studien auch gut für die Lebensdauer der Kuh. Gibt es weniger Geburten, kommen zudem weniger Kälber aus der Milchproduktion in die Mast. Denn wer MuKa wirklich ganzheitlich denkt, braucht gute Lösungen auch für diejenigen Tiere, die dort nicht (mehr) bleiben können.

  • Dieser Artikel erschien in der Agricultura-Ausgabe 4/2023. Autorin: Annemarie Raemy

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