Es gibt keine unschuldige Ernährung

Der Mensch muss essen. Zumindest in unseren Breitengraden muss es aber nicht zwingend Fleisch sein. Doch auch wenn wir auf die Produktion und den Konsum von Fleisch oder tierischen Produkten generell verzichten, sind nicht alle unangenehmen Fragen aus der Welt geschafft.

So viel vorneweg: Dies wird kein Artikel für oder gegen Tier­haltung. Dass sich die Kleinbauern Vereinigung gegen Massen­tierhaltung mit all ihren negativen Konsequenzen für Tiere, Um­welt und Menschen ausspricht und einsetzt, ist bekannt. Was uns interessiert sind die feinen Zwischentöne. Gibt es sinnvolle Produktionssysteme ohne Tiere? Gibt es eine verantwortungs­volle Landwirtschaft mit Tieren? Und wie kann eine umsichtige Ernährung aussehen?

Die Grenzen lösen sich auf

Früher war es möglicherweise einfacher. Fast jeder Haushalt hielt Tiere, sie waren Teil der Selbstversorgung, zu der auch der Ge­müsegarten und die Hostet mit den Obstbäumen beitrugen. Mit der Industrialisierung und Rationalisierung der Land­ und Ernäh­rungswirtschaft im 20. Jahr­hundert änderte sich das. Die Nutztierhaltung spezia­lisierte sich, immer mehr Tiere wurden unter immer unwürdigeren Bedingun­gen gehalten. Und für viele von uns ist sie heute sehr weit weg und abstrakt. Doch die Tierhaltung deswegen per se als moralisch verwerflich zu bezeichnen, greift zu kurz. Die entscheidende Frage ist viel­ mehr, wie wir Tiere halten. Möglicherweise ist auch der Begriff «Nutztier» zu überdenken. Geht es wenn schon nicht eher um eine Partnerschaft? Dies bedingt aber, das partnerschaftliche Wesen wirklich ernst zu nehmen und seine Würde anzuerkennen.

Da stellt sich die Frage, ob dies überhaupt möglich ist, wenn man das Tier am Ende seines (zu kurzen) Lebens schlachtet. Ein berechtigter Einwand. Also nur noch Pflanzen essen? Neuste Forschungen weisen darauf hin, dass Pflanzen ebenfalls Emp­findungen haben – und damit mehr sind als ein Wasser, Nähr­stoffe und Licht verarbeitendes Zellsystem. Und auch dafür, dass Pflanzen untereinander, aber auch mit der Tierwelt kommuni­zieren, gibt es wissenschaftliche Hinweise. Pflanzen, so glaubt eine Reihe von Forschenden heute, sind nicht nur intelligent. Wie Tiere haben sie ein Interesse an ihrer eigenen Existenz. Da­mit verwischen sich die vermeintlich klaren Grenzen zwischen Tier­ und Pflanzenreich immer mehr.

Ohne Tiere glücklich

Es gibt Betriebe, die gänzlich auf Tierhaltung verzichten. Biolo­gisch­vegane Landwirtschaft nennt sich das, und verbindet die Grundsätze der ökologischen Landwirtschaft mit denen des Ve­ganismus. Folglich werden keine Tiere zur Produktion von Nah­rungsmitteln gehalten und auf Dünger tierischer Herkunft wie Gülle oder Mist wird verzichtet. Die Nährstoffe kommen von Gründüngung, pflanzenbasiertem Kompost oder Mulch. Ein sol­cher bio­veganer Betrieb ist der Biohof Tannacker in Rechthal­ten (FR) auf 850 m. ü. M. Es ist ein Kleinbetrieb mit Spezialkultu­ren, den Jann und Nadia seit 11 Jahren betreiben. Auf den 3 ha Land wachsen in bunter Mischung Obst, Gemüse, Kräuter, Bee­ren, Gewürze, Nüsse und Hülsenfrüchte. Als ausgebildeter Ge­müsegärtner und Veganer war für Jann klar, dass er eine Land­wirtschaft ohne Tiere wollte – und sagt, dass sie nicht fehlen.

«Auch ohne Tiere ist es möglich, die nötigen Nährstoffe zuzführen. Wir haben kleinere, extensiveGrünlandflächen, die sich nicht für den Ackerbau eignen. Der Wiesenschnitt dieser Flächendient als Dünger für unsere Kulturen», erzählt Jann. Je nach dem, wann die Wiese gemäht wird, enthält der Mulch andere Nähr­stoffe: «Junges Gras bringt mehr Stickstoff ein und dient der Dün­gung. Älteres Gras ist kohlenstoffhaltiger und dient dem Humus­aufbau». Ihre Ernte vertreiben sie lokal, teils frisch, teils verar­beitet. Die vegane Ausrichtung des Hofes ist Teil eines Gesamt­konzeptes und hat auch ökologische Gründe. Denn es ist kein Geheimnis, dass Tierhaltung ressourcenintensiver ist als Ackerbau. Sowohl bezüglich Flächen­ als auch Wasserverbrauch schneidet die pflanzliche Ernährung bedeutend besser ab als die tierische. Dazu kommen die Treibhausgasemissionen, welche die Tierhal­tung verursacht.

Mit Tieren, aber anders

In einem Land wie der Schweiz stellt sich trotzdem die Frage: Macht Tierhaltung auf gewissen Flächen doch Sinn? Ackerbau ist aus topographischen und klimatischen Gründen an vielen Or­ten nicht möglich. Tiere jedoch nutzen diese Flächen problemlos und bis in grosse Höhen. Raufutterverzehrer sind im Prinzip also keine Nahrungsmittelkonkurrenten für den Menschen – voraus­gesetzt, sie fressen nur Gras und Heu vom eigenen Betrieb. Des­halb gehören zu einer standortangepassten Landwirtschaft auch geeignete Rassen und der Fläche angemessene Tierbestände. Tierhaltung ist ökologisch nur vertretbar, wenn sie sich an der Trag­fähigkeit der Ökosysteme orientiert und wenn die Nährstoffkreis­läufe lokal oder regional geschlossen werden. Entscheidend ist auch die Art und Weise der Tierhaltung.

Viele Bäuerinnen und Bauern können die Nutztierhaltung im her­kömmlichen Sinn mit ihrem Gewissen nicht mehr vereinbaren und wenden sich davon ab. Immer mehr Betriebe stellen auf Le­benshöfe um. Dies sind Orte, wo Nutztieren ein neues Leben ge­schenkt wird: Sie müssen keinen Nutzen mehr erbringen, sondern dürfen einfach Tier sein. Lebenshöfe finanzieren sich über Tier­patenschaften, Führungen und Aufklärungsarbeit. Viele betreiben auch Gemüsebau. Die Tiere werden in den Hofkreislauf einbezo­gen, womit auch der Dünger Verwendung findet. Eine zunehmen­de Zahl von Betrieben entscheidet sich auch für «sanftere» For­men der Nutztierhaltung, in dem sie beispielsweise die Nutzungs­dauer der Kühe verlängern oder ihre Tiere auf dem Hof in ihrer gewohnten Umgebung schlachten. Auch die muttergebundene Kälberaufzucht gehört zu diesen alternativen Haltungsformen.

Den eigenen Kompass finden

Mit oder ohne Tiere, mit Fleisch, vegetarisch oder vegan – keine Variante kommt ohne ethische und moralische Kompromisse aus. Da der Mensch keine Photosynthese betreiben kann, muss er von anderem organischem Material leben. Wollen wir uns nicht nur von heruntergefallenen Früchten ernähren, muss jede und jeder für sich entscheiden, wo sie oder er die Grenze zieht. Eine umsichtige und verantwortungsvolle Landwirtschaft sowohl ge­genüber den Tieren als auch den Pflanzen kann uns einen mög­lichen Weg weisen.

 

Dieser Artikel erschien in der Agricultura-Ausgabe 1/2022. Autorin: Annemarie Raemy

Photos (c) Atelier Superpeng

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