Tessiner Landwirtschaft: Der Süden reizt und fordert

Viele kennen den Kanton Tessin aus den Ferien. Das führt zu einem vagen Bild mit oft romantischen Vorstellungen, auch was die Landwirtschaft betrifft. Bauernhöfe sind meist handarbeitsintensiv, kleinstparzelliert und in Pacht. Nicht gerade das, was eine Hofnachfolge begünstigt. Wie sieht die Landwirtschaft im Südkanton aus und wie steht es um den Generationenwechsel?

 

Als einziger Schweizer Kanton liegt der Kanton Tessin vollständig südlich der Alpen und erstreckt sich über rund 100 Kilometer von den Alpen bis an den Rand der Poebene. Der Monte Ceneri trennt den Kanton in die zwei Gebiete Sopraceneri und Sottoceneri. Das alpin geprägte Sopraceneri im Norden grenzt an die Bergkantone Wallis, Uri und Graubünden. Charakteristisch für diese Region sind die Alpweiden am Gotthardmassiv. Im Sottoceneri hingegen ist das Klima mild, mit Palmen und Reben schon fast mediterran.

Klimatisch sind die Voraussetzungen für die Landwirtschaft im Tessin folglich sehr unterschiedlich. Jede Region hat ihren eigenen Charakter und ihre eigenen Produkte. Der Durchschnittsbetrieb umfasst zwölf Hektaren. Noch heute ist die (Selbstversorger)-Landwirtschaft mit kleinen Flächen und Ställen verbreitet. Viele Betriebe bewirtschaften kleine, parzellierte Flächen. Die Tessiner Landwirtschaft ist eine mit viel Handarbeit verbundene Berglandwirtschaft. Doch der Kanton besteht nicht nur aus steilen Hängen und unwegsamem Alpgebiet. In der Magadino-Ebene beispielsweise gedeihen Gemüse- und Ackerkulturen, ja sogar Reis.

Alpwirtschaft hat Tradition

Der Kanton Tessin zählt rund 715 Ganzjahres- und 250 Sömmerungsbetriebe. Gemäss dem Agrarbericht des Bundes 2019 halten etwa 200 Betriebe Milchkühe, rund 3500 Milchkühe werden im Tessin gemolken. Die Betriebe haben meist eine kleine und mittlere Grösse und befinden sich überwiegend im Berggebiet. In der Leventina gibt es auch grössere, intensivere Milchwirtschaftsbetriebe. Traditionellerweise spielen Sömmerungsbetriebe und die damit verbundene Alpkäseproduktion eine wichtige Rolle in der Struktur der Tessiner Milchwirtschaft. Laut Agrarbericht werden neben den Tessiner Milchkühen jeden Sommer zusätzlich noch etwa 1000 Tiere aus anderen Kantonen auf Tessiner Alpen gesömmert. Seit 2002 ist der Tessiner Alpkäse AOP (Appellation d’Origine Protégée) geschützt. Speziell ist, dass er bis zu 30 Prozent Ziegenmilch enthalten darf. Der Ziegenbestand im Kanton Tessin bleibt über die Jahre stabil und zeigt die starke Verankerung der Ziegenhaltung. Obschon die Alpwirtschaft im Tessin von grosser Bedeutung ist, werden Alpen auch aufgegeben, vor allem steile, schwer zugängliche Flächen werden nicht mehr bewirtschaftet und verbuschen. Die Klimaerwärmung trägt auch ihren Teil bei: Der Wald drängt in die hohen Lagen, wo heute noch Bergwiesen zu sehen sind.

Direktvermarktung und Nebenerwerb

Gut ein Viertel der Tessiner Betriebe setzt einen Teil ihrer Produkte über Direktvermarktung ab. Produkte aus dem Tessin sind bei Einheimischen und Gästen beliebt. Um regionale Spezialitäten mit einer starken Verbindung zum «territorio» – zur Alpensüdseite – auszuloben, wurde eigens für den Kanton Tessin das Label TICINO geschaffen. Das Label steht für regionale Produktion und Verarbei- tung, hohe Qualität und «chilometro zero». Letzteres ist im Tessin ein Synonym für kurze Transportwege. 47 Prozent der Tessiner Höfe sind laut der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB) Nebenerwerbsbetriebe. Dies sei vor allem auf das Realteilungserbrecht zurückzuführen, so die SAB. Im Tessin wie auch im Wallis wurden die Flächen zu gleichen Teilen unter den Kindern aufgeteilt. Im Gegensatz zu den meisten Kantonen im Mittelland, wo die Höfe als Ganzes an ein Kind vererbt wurden, entstanden in diesen Gebieten folglich kleine Landwirtschaftsbetriebe. Um die Existenz zu sichern, wird das landwirtschaftliche Einkommen seit jeher mit ausserlandwirtschaftlichen Tätigkeiten ergänzt. In vielen Bergregionen bringt der Tourismus zusätzliches Einkommen in die Täler. Dies ist auch in Bergregionen in Alpenländern wie Frankreich und Italien so. Die starke Aufteilung des Landes hatte zur Folge, dass viele Flächen nicht von den Eigentümern selbst bewirtschaftet, sondern verpachtet wurden. Der Pachtlandanteil im Kanton Tessin ist im Schweizer Vergleich entsprechend hoch. Im Schweizer Durchschnitt beträgt dieser 56 Prozent, im Tessin 82 Prozent.

Kanton fördert Generationenwechsel

Diese beiden Faktoren – nötiger Nebenerwerb und hoher Pachtlandanteil – vergrössern die ohnehin schon hohen Hürden für einen gelungenen Generationenwechsel im Tessin. Dass Pachtland oft ohne Verträge bewirtschaftet wird und die Eigentumsverhältnisse meist kompliziert sind, erschwert Hofübergaben zusätzlich. Eine weitere Hürde ist der bei vielen Höfen fehlende Wohnraum. Dies ist auf die starke Erbteilung der Höfe in der Vergangenheit zurückzuführen. Der Kanton Tessin engagiert sich beispielhaft, um den Generationenwechsel in der Landwirtschaft zu fördern. Auf Initiative des Landwirtschaftsamtes Tessin hin genehmigte der Grosse Rat im Jahr 2015 die Auszahlung der Starthilfe bis 40 Jahre. In allen anderen Kantonen liegt die Altersbeschränkung bei 35 Jahren. Weiter spricht der Kanton A-fonds-perdu-Beiträge bei Hofübernahmen. Wer eine Zweitausbildung in der Landwirtschaft abschliesst und innert fünf Jahren einen Hof übernimmt, wird zudem mit 20’000 Franken für die Weiterbildung unterstützt.

Anlaufstelle im Tessin

Seit knapp zwei Jahren arbeitet die Anlaufstelle für ausserfamiliäre Hofübergabe daran, auch im Tessin Fuss zu fassen. Es zeigt sich, dass viele Betriebe unter der Hand weitergegeben oder von bestehenden Betrieben übernommen werden. Zudem sind nur wenige Hofsuchende bereit, handarbeitsintensive, steile Betriebe im Tessin zu bewirtschaften. Eine zusätzliche Herausforderung stellen Spezialkulturen wie die Reben dar. Oft fehlt hier bei jungen Berufsleuten die Erfahrung. Ein gelungenes Beispiel zeigt nachfolgendes Interview und der Kurzfilm «Südhang». Der Film portraitiert die Übernehmer-Familie Götsch und die beiden Hofabgebenden Verena und Marco Klurfeld. Bei landwirtschaftlichen Organisationen und der Beratung stösst das Thema auf offene Ohren. Der Kleinbauern-Vereinigung ist es ein Anliegen, sich weiterhin im Süden für den Generationenwechsel einzusetzen.

Die Chancen im Kleinen sehen

Seit vier Jahren leben die Deutschschweizer Anja Rettenmund und Benjamin Bucher mit ihrer Tochter Alma im Valle Verzasca. Seit 2019 bewirtschaften sie ihren eigenen Betrieb. Claudia Gorbach hat mit ihnen über ihre Motivation im Tessin zu leben und zu arbeiten gesprochen.

Claudia Gorbach: Was ist aus deiner Sicht besonders an der Tessiner Landwirtschaft?
Anja Rettenmund: Das Tessiner Berggebiet ist wild, ursprünglich und unberührt. Die Wälder sind unangetastet, fast wie Urwälder – ideal für die Geissen – die bei uns, wie fast überall im Tessin, freien Weidegang (vago pascolo) geniessen.

Wieso habt ihr euch für einen Hof im Tessin entschieden?
Hier in Vogorno können wir einfach leben und einen kleinen, überschaubaren Hof mit viel Handarbeit bewirtschaften. Wir können eine Selbstversorger-Landwirtschaft pflegen und kostentief bauern. Wir haben den Hof von Sergio Torroni gepachtet und auf den 1. Januar 2019 übernommen, sind aber schon drei Jahre früher nach Vogorno gekommen und in die Landwirtschaft eingestiegen. Es ist uns wichtig, diese Region offen zu halten – wir sind die einzigen Bauern in unserem Weiler. Wir leisten einen wichtigen Beitrag zu mehr Biodiversität.

Wie wurdet ihr aufgenommen?
Wir fühlen uns gut integriert und wurden wohlwollend empfangen. Die Tessiner, besonders die Verzascesi, sind liebe, offene Menschen, die uns unterstützen, wo sie können. Besonders Sergio und Monica stehen uns oft helfend zur Seite. Wir schätzen auch das gute Verhältnis zu unserer Kundschaft.

Welche Vorzüge hat es, in der Südschweiz zu bauern?
Ich bin ursprünglich Kindergärtnerin und mein Partner Benjamin Elektriker und Töpfer. Ich arbeitete acht Jahre lang immer wieder in Kambodscha. Während dieser Zeit absolvierte ich die Bäuerinnenschule. Wieder in der Schweiz wünschte ich mir eine Arbeit, einen Ort, an dem ich viel draussen sein und einfach leben kann – so wie in Kambodscha, wo das Leben sehr einfach war und die Natur unberührt. Hier im Verzascatal haben wir diesen einfachen, unberührten Ort ge unden. Wir schätzen das milde(re) Klima, die üppige Vegetation und das Tessin als Geissenparadies. Unsere Tiere sind einen Grossteil des Jahres draussen; frei in wilder, unberührter Natur.

Was fordert euch heraus?
Wir stossen körperlich an Grenzen, besonders Benjamin, der mit meinem Muttersein auch einen Teil meiner Arbeiten übernimmt. Typisch für uns ist – wie für viele Tessiner Höfe – dass Ställe, Häuser, Heuwiesen und Weiden nicht arrondiert sind. Die Höfe im Tessin werden meist ohne Wohnhaus übergeben. Das ist auch bei uns so: Wir pachten Hof, Ställe, Alp und Land und haben ein Haus gekauft. Es ist nicht einfach, bezahlbaren Wohnraum zu finden.

Was möchtet ihr anderen Hofsuchenden mitgeben?
Die Chance im Kleinen zu sehen, hat für mich eine grosse Qualität. Auch im Kleinen ist es lebenswert! Möglichst schonend mit den Ressourcen umzugehen ist unser Motto.

Betriebsspiegel
Bio-Bergbauernhof in Vogorno, auf 500m ü. M., Bergzone 3, 6,40 ha Landwirtschaftliche Nutzfläche. Diverse Hochstamm- Obst- und Nussbäume, Gemüsegarten. Tiere: 10 Mutterschafe, 23 Milchziegen, Hühner, 2 Schweine während der Alpsaison

 

  • AutorIn Severine Curiger
  • Dieser Artikel erschien in der Agricultura-Ausgabe 1/2020

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