«Die Protestwelle ist kein unerwarteter Ausbruch»

Seit 2022 protestieren Bauern in den Niederlanden im Zuge der «Stickstoffkrise» wiederholt gegen neue Umweltauflagen. Weshalb kommt es gerade jetzt zu Demonstrationen, und wo gibt es Verstrickungen zum rechten politischen Lager und zur Agrarindustrie? Ein Gastbeitrag von Jan Douwe van der Ploeg, emeritierter Professor an der Universität Wageningen (NL), dessen Einschätzung mit den Bauernprotesten in weiteren europäischen Ländern aktueller ist denn je.

Foto: Julian Kronbach

Jenen, die mit den Feinheiten der niederländischen Landwirtschaft nicht so vertraut sind, wird die Welle der Bauernproteste im 2022 (siehe z.B. DutchNews.nl) mit Sicherheit einige Rätsel aufgeben. Alles in allem wird doch über die niederländische Landwirtschaft gesagt, dass sie zu den modernsten der ganzen Welt gehört, und sie wird – zumindest im vorherrschenden Diskurs – als ein Vorzeigebeispiel für viele andere Länder präsentiert. Zugleich gehören die niederländischen Bauern, insbesondere die grösseren, die nun auf den Strassen sind, wahrscheinlich zu den am meisten verwöhnten auf dem ganzen Planeten: Sie erhalten ganz besonders hohe Subventionen über die gemeinsame Agrarpolitik (GAP) der EU.

Phänomen mit komplexen Verwobenheiten

Die Protestwelle ist kein unerwarteter Ausbruch, sondern sie baut auf früheren Episoden [1] auf, die nun bereits einige Jahre zurückreichen. Es handelt sich dabei auch nicht um ein Phänomen, das nur auf die Niederlande beschränkt ist, sondern vielmehr globale Ausstrahlung hat [2], da es die komplexen Zusammenhänge und Verwobenheiten der Klimakrise, der Landwirtschaft, der Agrarpolitiken und der bäuerlichen Kämpfe betrifft.

Baumpflanzung auf dem Biesterhof

Ein niederländischer Kleinbetrieb, der im Gegensatz zur unten beschriebenen unternehmerischen Landwirtschaft steht, ist der Biesterhof. Dort werden regelmässig Aktionstage mit grossem Anklang veranstaltet, welche mehr Gemeinschaft und Artenvielfalt auf den Hof bringen. Unsere Mitarbeiterin Bettina Stampfli war an einem Baumpflanztag auf dem Biesterhof und berichtet in diesem Artikel. 

 

Die niederländischen Bauern, die derzeit protestieren, stellen sich selbst als «Krieger» dar, die in «Guerillakämpfen» stehen: Sie blockieren die Autobahnen des Landes mit ihren schweren Traktoren und drohen damit, die Störung der öffentlichen Ordnung auf ein noch nicht definiertes Niveau zu erhöhen (was eine komplette Blockade der Lebensmittelversorgung der Städte einschliessen könnte). Gleichzeitig haken rechte populistische Organisationen und Parteien sowie einflussreiche Teile der niederländischen Agrarindustrie in diese Protestwellen ein und unterstützen sie. Diese vertrackte Situation lässt sich nur verstehen, wenn man sich zwei grosse Widersprüche vor Augen führt. In den dreissig Jahren zwischen 1960 und 1990 wurde die bäuerliche Landwirtschaft als bedeutendste Form der Landwirtschaft in den Niederlanden [3] an den Rand gedrängt und die unternehmerische Landwirtschaft wurde dominant. Mit diesem Landwirtschaftstyp wurden Farmen geschaffen, die stark mit Agrarindustrien und Banken verwoben und zugleich hochgradig von ihnen abhängig waren. Das war eine Veränderung, die sehr stark durch staatliche Interventionen unterstützt wurde. Ebenso war damit das Versprechen des ständigen Wachstums und der fast unbegrenzten Expansion verbunden. Jedoch wurden in den darauffolgenden Jahrzehnten von den 1990er bis heute die Grenzen dieses Modells immer sichtbarer. Die unternehmerische Landwirtschaft geriet zunehmend in Konflikt mit den Grenzen der Natur und der Gesellschaft. Die aktuelle Stickstoffkrise (die den Protesten zugrunde liegt) ist nur ein Ausdruck dieses Widerspruchs.

Neben diesem ersten Widerspruch ist noch ein zweiter in den Vordergrund getreten. Der in der Epoche der Modernisierung propagierte Idealtypus des landwirtschaftlichen Betriebes (grossflächig, spezialisiert, hochintensiv, hoher Einsatz von externen Inputs und fossilen Brennstoffen; kurz: industrialisierte Betriebe) wurde als beste (wenn nicht einzige) Möglichkeit propagiert, um auf dem Weltmarkt erfolgreich zu sein. In der Praxis erwiesen sich solche Betriebe jedoch als äusserst anfällig und verwundbar: Preisschwankungen führten leicht zu negativen Cashflows, wobei die hohe Verschuldung (ein strukturelles Merkmal dieser Art von Landwirtschaft) die Achillesferse war. So sahen sich diese leistungsstarken Betriebe bald mit niedrigen oder sogar negativen Einkommen konfrontiert. Die über Jahrzehnte hinweg getroffenen Entscheidungen führten jedoch zu einer Pfadabhängigkeit, die es sehr schwierig machte, die Richtung zu ändern.

Widersprüche als fruchtbarer Nährboden

Das Zusammentreffen dieser beiden Widersprüche hat sich als fruchtbarer Nährboden für Frustration, Verbitterung und eine Bewegung erwiesen, die leugnet, dass die industrialisierte Landwirtschaft im Widerspruch zu Natur und Gesellschaft steht. Stattdessen versucht die Bewegung, das «Recht» einzufordern, diesem Pfad weiterhin folgen zu dürfen. Ein Pfad, der in den letzten fünfzig Jahren in riesigem Ausmass mit öffentlichen Subventionen und technischer Unterstützung aufgebaut worden ist.

Jan Douwe van der Ploeg

Jan Douwe van der Ploeg ist emeritierter Professor für Agrarsoziologie an der Universität Wageningen (NL) und Lehrbeauftragter am College of Humanities and Development Studies der Chinesischen Agraruniversität in Peking (CN). Er ist Autor des Buches «The New Peasantries: Rural Development in Times of Globalization» (Routledge, 2018).

Diese Bewegung ist antidemokratisch. Sie spricht dem EU-Parlament schlichtweg das Recht ab, Schwellenwerte festzulegen, um die weitere Expansion industrialisierter landwirtschaftlicher Betriebe zu begrenzen (und damit die damit verbundenen Belastungen für das Klima, die öffentliche Gesundheit, die Landschaft, die Biodiversität und die Lebensqualität auf dem Lande zu begrenzen oder zumindest gering zu halten). Es ist eine Bewegung, die sich für Gewalt entscheidet, genauso wie sie ihre eigene Blase schafft, in der ihre Eigeninteressen und Ansichten jeden anderen Ansatz absolut delegitimieren. Sie stellt die «Anderen» und das «Anderssein» in den Mittelpunkt, wenn es darum geht, die aktuellen Probleme zu erklären. Die «Anderen» (politische Parteien, Medien, die Konsumentinnen usw.) sind schuld – die vorherrschende Art der Landwirtschaft und die betroffenen Bauern sind unschuldig: Mehr noch, sie sind vielmehr die Opfer. Diese radikale Bauernbewegung zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Dinge auf den Kopf stellt. Das zeigt sich zum Beispiel in der Sprache, die sie verwendet. Diese Bauern präsentieren sich als «Opfer» einer ungerechten Politik. Als «Underdogs» in einem heroischen Kampf gegen den Staat. Sie versuchen sogar, sich als «Juden» darzustellen, die von einem autoritären Regime verfolgt werden – eine Position, die viele Menschen als abscheulichen und widerwärtigen Vergleich empfinden. Auch innerhalb ihrer Weltanschauung gibt es bemerkenswerte Wendungen. Jahrzehntelang haben sie die Ausgrenzung der Kleinbäuerinnen befürwortet. Die Basis dafür war die Grundannahme, dass diese Ausgrenzung eine Voraussetzung für eine «strukturelle Entwicklung» sei: Eine Entwicklung, welche die Unternehmer begünstigte, indem sie ihnen den Raum schuf und sicherte, weiter zu expandieren.

Heutzutage wird ein solcher Ausschluss jedoch als schweres Verbrechen dargestellt (da nun ihre eigenen Unternehmen von der Enteignung bedroht sind). Eine Sache ist jedoch gleichgeblieben. Das ist der dreifache Anspruch (oder das, was sie als eine Art dreifaches Recht per Geburt empfinden): 1) ihre Art der Bewirtschaftung fortzusetzen, auch wenn deren Sinnhaftigkeit höchst umstritten ist; 2) ihre Betriebe weiter auszubauen; und 3) wenn sich die ersten beiden als unmöglich erweisen, die Entschädigung zu erhalten. Dieses «Programm» [1] spiegelt sich deutlich in den bisherigen Verhandlungsergebnissen wider.

Kleinbäuerliche Landwirtschaft als Weg aus der Sackgasse?

Die bereits lange andauernde, vielschichtige und komplexe Wechselwirkung zwischen der sich entwickelnden staatlichen Politik und dieser Bewegung von zähen, engstirnigen und beharrlichen Agrarunternehmern hat Wirkung gezeigt und beide Seiten stark geprägt. Das jüngste Zögern des Staates, eine klare Linie zu ziehen, hat die Siegesstimmung der «zähen Kämpfer» gestärkt, die sich zunehmend als unschlagbar empfinden. In ähnlicher Weise hat der Entwicklungsverlauf der Agrarpolitik (im Gegensatz zu differenzierten und dezentralisierten Ansätzen) zu Brüchen und Reibungen auf der ganzen Linie geführt. Diese Bruchlinien wiederum haben auch negative Folgen für die kleinbäuerlichen Teile der niederländischen Landwirtschaft, die ironischerweise einen Teil der «Rechnung» bezahlen müssen, die von den Unternehmern hinterlassen wurde. Auf diese Weise vergrössert die staatliche Politik die Reihen ihrer Gegner (wobei letztere treffenderweise das Bild weinender Bäuerinnen von kleinen Betrieben verwenden – eine weitere Wendung!).

Dennoch gibt es in den Niederlanden nach wie vor grosse Teile der bäuerlichen Landwirtschaft (wie zum Beispiel der Biesterhof). Diese Art der Landwirtschaft unterscheidet sich klar und deutlich von der unternehmerischen Landwirtschaft [4]. Sie trägt den Keim einer wichtigen Alternative in sich, die gut mit der Natur und den Erwartungen der Gesellschaft im Einklang steht. Sie hat auch neue Formen der Multifunktionalität entwickelt, die es den Bauern und Bäuerinnen er- möglichen, dem Dilemma «Wachsen oder Weichen» zu entkommen, indem sie Dienstleistungen anbieten, für die es eine grosse Nachfrage gibt. Den agrarökologischen Höfen (die Teil dieses bäuerlichen Segments sind) gelingt es, ein hohes Mass an Nachhaltigkeit zu erreichen und gleichzeitig ein höheres Einkommen zu erzielen als in der industrialisierten Landwirtschaft.

Die Tragödie ist jedoch, dass dieses alternative Segment kaum eine politische Vertretung oder Stimme hat. Sie könnte sogar das eigentliche Opfer der derzeitigen schwierigen und unnötigen Kämpfe werden. Die Mobilisierung dieses Sektors, der zu den wirklichen Opfern werden könnte, ist dringend nötig.

Agrarfrage neu denken

Die Welt hat schon früher rechte Bewegungen auf dem Lande erlebt (vor allem in den 1930er Jahren), und sie scheinen heute in vielen Teilen der Welt wieder auf dem Vormarsch zu sein [5]. Eine ebenso dringende Aufgabe ist es, die Dynamik und die Mechanismen zu verstehen, die dazu führen, dass die Unzufriedenheit auf dem Lande den einen oder den anderen Weg einschlägt: Das heisst etwa, ob diese Unzufriedenheit dazu führt, eine privilegierte Stellung innerhalb der kapitalistischen Gesellschaften zu erringen, oder ob sie in die Richtung wirkt, zu der Veränderung von Gesellschaften beizutragen.

Wir müssen auch die «Agrarfrage» neu überdenken und neu definieren. Denn die vom und für das Kapital geprägte Landwirtschaft zerstört die Natur, trägt erheblich zum Klimawandel [2] bei und läuft den gesellschaftlichen Erwartungen zuwider. Diese ist politisch abzulehnen, während die bäuerliche Landwirtschaft als zukunftsweisend betrachtet werden sollte. Diese Konflikte stellen zweifellos eine interessante und wahrscheinlich entscheidende Wegscheide dar, die unsere Landschaften und die Art und Weise, wie wir uns ernähren, für die nächsten Generationen beeinflussen wird. In dieser Hinsicht werden die Ereignisse in den Niederlanden sicherlich eine weltweite Resonanz haben.

 

Epilog

Zu Beginn des Jahres 2024 stehen wir in den Niederlanden vor einer Situation, die noch komplexer ist als zuvor.

  1. Die Wählerunterstützung für den rechtspopulistischen Block hat erheblich zugenommen. Dieser allgemeine Zuwachs ging mit einer internen Verschiebung einher. Grosse Teile der BBB (Bauern-Bürger-Bewegung) wechselten zur PVV (Partei für die Freiheit), der rechtsextremen Partei von Geert Wilders. Zusammen werden diese beiden Parteien höchstwahrscheinlich die neue Regierung, die in den kommenden Monaten gebildet werden soll, stark prägen. Dies bedeutet, dass es keine erfolgreiche und wirksame Politik zur Lösung der Stickstoffkrise geben wird.
  2. Gleichzeitig ist klar, dass diese Stickstoffkrise auf neue Weise und in neuen Formen auftauchen wird. Das heisst, sie ist ein wesentlicher Bestandteil der Wasser-, Energie-, Gesundheits- und Klimakrise. Sie wird auch zu wachsenden Spannungen zwischen der Europäischen Kommission und der niederländischen Regierung führen.
  3. Schliesslich gibt es eine Art Internationalisierung. Der Kampf gegen den dringend notwendigen Umbau der industrialisierten Landwirtschaft breitet sich über weite Teile Europas aus. Die Sinnbilder, die verwendet werden, sind von Land zu Land unterschiedlich. In den Niederlanden ist es der Stickstoff. In Deutschland ist es heute die subventionierte Nutzung fossiler Brennstoffe. In anderen Ländern ist es der Einsatz von Pestiziden (vor allem Glyphosat), usw. Die Gemeinsamkeiten dieser Beispiele sind offensichtlich. Sie stehen für die Forderung, die Industrialisierung der Landwirtschaft weiter voranzutreiben, ebenso wie sie ein rundes Nein zu einer Ökologisierung der Landwirtschaft beinhalten.

Die Aufgabe der bäuerlichen Organisationen, Wege aus dieser sich verschärfenden Krise zu finden und zu erkämpfen, ist alles andere als einfach, aber notwendiger denn je.

 

[1] van der Ploeg (2020): Farmers’ upheaval, climate crisis and populism. In: Journal of Peasant Studies 47/3

[2] Borras/Scoones/Baviskar/Edelman/Peluso/Wolford (2022): Climate change and agrarian struggles: an invitation to contribute to a JPS Forum. In: Journal of Peasant Studies 49/1. 

[3] van der Ploeg (2017): The importance of peasant agriculture. A neglected truth. Abschiedsvorlesung vom 26.1.2017.

[4] van der Ploeg (2021): The political economy of agroecology. In: Journal of Peasant Studies 48/2.

[5] Scoones/Edelman/Borras et al (2021): Authoritarian Populism and the Rural World.

  • Dieser Artikel erschien in der Agricultura-Ausgabe 1/2024. Autor: Jan Douwe van der Ploeg. Der Beitrag (ohne Epilog) wurde erstmals im Juli 2022 in Englisch auf peasantjournal.org veröffentlicht. Deutsche Übersetzung mit freundlicher Genehmigung von Franziskus Forster, ÖBV-Via Campesina Austria.

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