Im Kanton Graubünden hat sich ein ambitioniertes Projekt mit dem Ziel einer klimaneutralen Landwirtschaft formiert. Insgesamt 52 Betriebe machen mit. Die Höfe werden von Expert:innen aus Bildung und Wissenschaft durch das Freiluft-Labor begleitet. Das vom Kanton finanzierte Vorzeigeprojekt will mit konkreten Lösungsansätzen seinen Beitrag zur Klimakrise leisten.
Die Landwirtschaft hat im Vergleich der Sektoren mit 14,3 % (2021) den viertgrössten Anteil an den totalen Treibhausgasemissionen der Schweiz. Zugleich ist sie unmittelbar vom Klimawandel betroffen. Diese Faktenlage liegt dem Projekt «Klimaneutrale Landwirtschaft Graubünden» zugrunde. Die Initiantinnen und Initianten senden mit dem Vorhaben ein deutliches Signal: Sie anerkennen einen dringenden Handlungsbedarf und wollen Teil der Lösung sein. Das kantonale Grossprojekt möchte national eine Vorreiterrolle einnehmen. Momentan läuft die Pilotphase. Nach einer ersten Bilanzierung der beteiligten Höfe werden nun individuelle Massnahmen zur Treibhausgas-Reduktion und einem schonenden Ressourcenumgang ausgetüftelt und getestet. Gleichzeitig geht es darum, die Resilienz der Betriebe zu stärken.
Claudio Müller ist Co-Projektleiter. Er berichtet von den Massnahmen und Herausforderungen, die mit der Vision einhergehen.
Claudio Müller, wie ist der Begriff «klimaneutral» in eurem Projekt definiert?
Das war tatsächlich eine lange Diskussion: Nennen wir es nun klimafreundlich, klimapositiv oder klimaneutral? Wir fanden, dass klimaneutral als Vision gut taugt. Seitens Landwirtschaft wollen wir uns in Richtung Klimaneutralität bewegen. «Klimafreundlich» z. B. war uns als Begriff zu wenig herausfordernd angesichts der Dringlichkeit der Klimakrise. Dies im Wissen darum, dass es eine grosse Herausforderung sein wird. Es braucht umfassende Herangehensweisen, kontinuierliche Anstrengungen und vielleicht auch einen Systemwechsel. Wir sehen «klimaneutral» nicht als Marketingbegriff, wo sich die Bündner Landwirtschaft ein Label auferlegt.
Kann klimaneutrale Landwirtschaft mit Tieren funktionieren?
Insbesondere die Wiederkäuer spielen wegen der hohen Treibhausgaswirkung des Methans eine zentrale Rolle. Deshalb steht die Landwirtschaft auch immer wieder am Pranger. Raufutterverzehrer gibt es schon seit tausenden von Jahren, ohne dass sie eine Klimakrise ausgelöst hätten. Differenziert betrachtet liegt das aktuelle Problem in unserem zu hohen und global steigenden Fleischkonsum. Die damit einhergehende, wachsende Anzahl von Wiederkäuern wird längst nicht bloss auf der Weide gehalten. Ihnen werden Ackerfrüchte verfüttert, die effizienter für die direkte menschliche Ernährung genutzt werden sollten. Und es werden Regenwälder gerodet, um dort Futtermittel anzubauen. Wir müssen uns bei der Tierhaltung zur menschlichen Ernährung fragen, wie wir sie möglichst klimafreundlich gestalten können. Hebel bestehen z. B. im Grundsatz «Feed no Food», in der Anpassung von Stallsystemen, Lagerung der Hofdünger, Auswahl von Rassen und Langlebigkeit der Tiere.
Gibt es schon erste Erkenntnisse aus dem Projekt, z.B. wie wirksam die Massnahmen sind?
Wir stehen noch ganz am Anfang. Es ist noch zu früh, um zu sagen, mit dieser Massnahme reduzieren wir die Treibhausgasemissionen um so viel Prozent. Es ist eine unglaublich komplexe Situation, einen Betrieb zu bilanzieren. Die Höfe brauchen auch etwas Zeit: Von der Überlegung was zum Hof passt, bis zur Umsetzung, da vergeht schon Zeit. Dass nach 5 Jahren bereits 50% der Emissionen reduziert werden können, das ist eine Illusion. Die Klimakrise, in der wir uns heute befinden, hat eine Geschichte von 200 Jahren. Wir können nicht erwarten, nach drei Jahren mit dem Projekt eine Lösung gefunden zu haben.
Wie steht es um die Verbrennung fossiler Brennstoffe?
Die Hauptursache der Klimakrise liegt zweifelsfrei in der Verbrennung fossiler Energieträger. Es gelangt zu viel CO2 in die Atmosphäre und bleibt dort über tausende von Jahren erhalten. Jedes eingesparte Kilogramm nützt der Stabilisierung des Klimas. Wegen der hohen Treibhausgaswirkung von Methan und Lachgas stammen aus einem durchschnittlichen Bauernbetrieb allerdings nur rund 10 % aller landwirtschaftlichen Treibhausgase aus der Verbrennung von Diesel und Heizöl. Die grössten Beiträge der Landwirtschaft zur Bewältigung der Klimakrise sehen wir bei der Tierhaltung, im Umgang mit dem Boden und bei der grauen Energie. Aber klar: Elektrische Maschinen, Solar- und Biogasanlagen, Blockhausheizungen, das sind alles Möglichkeiten in puncto erneuerbarer Energien, die sich auf einem Hof anbieten.
Welche grossen Hürden musste das Projekt bis jetzt bewältigen?
Es ist schwierig zu vermitteln, dass es nicht ein paar wenige zielführende Massnahmen gibt. So gibt es auch Zielkonflikte. In der Tierhaltung z. B. führen verschmutzte Flächen zu Ammoniakemissionen. Aus einer Klima-Perspektive wäre es optimal, wenn die Tiere im Anbindestall stehen und möglichst wenig Platz beanspruchen. Das steht im Widerspruch zu tierfreundlicher Stallhaltung. In unserem Projekt sind zudem viele Akteurinnen involviert: die Bündner Landwirtschaftsbranche, Bildung, Beratung, Verwaltung und Wissenschaft. Ihre Vernetzung ist eine grosse Herausforderung. Und gleichzeitig ist es auch eine tolle Chance, wenn Bäuerinnen und Wissenschaftler in einen Dialog treten und auf Augenhöhe ein Problem lösen.
Wird an euch als Projekt der Anspruch herangetragen, dass ihr die Klimakrise alleine lösen solltet?
Das war mit ein Auslöser fürs Projekt. Wir spürten den Druck seitens Gesellschaft und Politik, dass sich die landwirtschaftliche Praxis bewegen muss. Für uns war klar, wir wollen nicht abwarten. Wir wollen mitreden und Lösungen suchen, die funktionieren. Dieses «sich als Teil der Lösung fühlen» ist eine grosse Motivation. Dazu kommt die direkte Betroffenheit. Die Landwirte stellen immer mehr Fragen: Was macht mich längerfristig widerstandsfähig? Muss ich andere Pflanzen anbauen? Muss ich anders mit dem Boden umgehen?
Worin liegt der Vorteil eines kantonal begrenzten Ansatzes?
Die Entscheidungswege von uns bis zur Verwaltung im Kanton sind klar viel kürzer als bspw. auf Bundesebene. Auch sind wir administrativ sehr schlank unterwegs. Das erlaubt uns, die Kernfragen des Projekts gezielt anzugehen. Zu Beginn war aufgrund des kantonalen Ansatzes die nationale Ausstrahlung eher begrenzt, da sehe ich den Nachteil. Wobei sich das jetzt gerade ändert. Wir sind heute nicht mehr die einzigen, mittlerweile gibt es in verschiedenen Kantonen solche Bestrebungen und da gilt es sich zu Vernetzen. Es müssen nicht alle bei Null anfangen.
Die anwendbaren Massnahmen sind vielzählig. Welche Massnahme ist die beliebteste?
Viele Betriebe setzen sich mit dem Bereich «Boden» auseinander. Dabei geht es vor allem um Humusaufbau und dem Speichern von Kohlenstoff. Die Bauern merken, dass ein humusreicher, lebendiger Boden resilienter ist und besser Wasser speichern kann. Die Trockenheit beschäftigt viele Betriebe. Dann gibt es auch im Themenkomplex Hofdünger, Aufbereitung und Kompostierung viele Projekte.
Welche Massnahmen sind besonders innovativ?
Kompostieren ist schon eine Wissenschaft für sich. Ein Betrieb, den ich persönlich begleite, liegt im Engadin auf 1800 m ü. M. Dort tüftelt der Landwirt an einem vollautomatisch betriebenen Kompost-Container. In dieser Höhenlage ist die Kompostierung schwierig, weil die Winterzeit so lang ist. Wegen den tiefen Temperaturen laufen die biologischen Prozesse viel langsamer ab. Mit dem Kompost-Container soll nun die nötige Temperatur erreicht werden, sodass auf dem Betrieb auch im Winter Kompost hergestellt werden kann. Im Frühling, wenn die Vegetationsperiode beginnt, hat der Bauer einen fixfertigen Dünger und kann ihn genau dann auf die Wiese ausbringen, wenn die Pflanzen es brauchen. So verbessert sich der Pflanzenbestand und auch der Humusgehalt im Boden. Der Ansatz verbindet mehrere Vorteile: Im geschlossenen System werden die Abgase abgefangen, Nährstoffverluste und die negativen Effekte bei der Kompostierung minimiert. Die Anlage wird mit der Solaranlage betrieben. Auf einem weiteren Hof wird eine Futterhecke für Ziegen getestet. Es wird sich zeigen, inwiefern sich damit positive Effekte auf Mikroklima und Wassermanagement, der Minimierung des Methanausstosses und einer Parasiten reduzierenden Futterquelle verbinden lassen. In der jetzigen Phase des Projekts wollen wir genau das erreichen: die Betriebe in ihrer Pionierarbeit stärken. Mit gebündelten Kräften können wir innovativ nach neuen Ansätzen suchen.
Jetzt befindet sich das Projekt mitten in der Pilotphase. Wie werden die Massnahmen auf den Kanton übertragen?
Das «Roll-out» wird eine grosse Herausforderung. Wir sehen es als Hauptaufgabe der Landwirtschaft, genügend und gesunde Nahrungsmittel zu produzieren: Dies, ohne dabei die planetaren Grenzen zu überschreiten. Die Landwirtschaft kann das jedoch nicht alleine. In der Expansionsphase gilt es, nebst den knapp 2000 Höfen im Kanton, auch alle nachgelagerten Bereiche – Handel, Verarbeitung, Gastronomie und Konsumierende – klimafreundlich umzustellen. Dort müssen wir Partner suchen. Kommunikation und Begegnungsplattformen spielen da eine wichtige Rolle. Eine klimaneutrale Landwirtschaft muss abgegolten werden, denn letztlich muss sie sich auch ökonomisch rechnen. Und es braucht gewisse Anpassungen in den gesetzlichen Rahmenbedingungen und Anreize oder Fördersysteme, die wir mit dem Kanton zusammen erarbeiten möchten.