Vielfältige Genfer Landwirtschaft

Ganz im Westen unseres Landes liegt der flächenmässig sechstkleinste und am zweitdichtesten besiedelte Kanton der Schweiz: Genf. Kein Wunder, dass er oft nur als Stadtkanton wahrgenommen wird. Zu Unrecht, denn auch die Landwirtschaft spielt hier eine wichtige Rolle.

 

Eingeklemmt zwischen Genfersee, Mont Salève, Mont Vuache und dem Jura-Gebirge, beherbergt dieses kleine Gebiet 389 landwirtschaftliche Betriebe. 35 Prozent der Kantonsfläche werden landwirtschaftlich genutzt. Seit vielen Jahren arbeiten Landwirtschafts-und Bürgerinitiativen, Behörden und  Umweltschützer Hand in Hand, um die Natur zu fördern und der Bevölkerung lokale, qualitativ hochwertige und erschwingliche Lebensmittel anzubieten. Man kann nicht von der Genfer Landwirtschaft sprechen,  ohne die Jardins de Cocagne zu erwähnen, die 1978 gegründete erste lokale Initiative für Vertragslandwirtschaft in Europa. Eine echte Genfer Spezialität ist ausserdem die silberne, stachelige Kardy, ein Gemüse, das traditionell zu Weihnachten gegessen wird und als einziges Schweizer Gemüse mit der geschützten Ursprungsbezeichnungen AOP ausgezeichnet ist. Das bedeutet, dass Produktion, Lagerung, Bleichen und Aufbereitung ausschliesslich innerhalb der Grenzen des Kantons Genf erfolgen.

Interview mit Valentina Hemmeler Maïga, Leiterin des kantonalen Amtes für Landwirtschaft und Natur

Anne Berger: Was zeichnet die Genfer Landwirtschaft aus?
Valentina Hemmeler Maïga: Es handelt sich um eine sehr diversifizierte Landwirtschaft in Bezug auf die Anzahl der Kulturen, die Produktions- und Vermarktungsmethoden. Die Landwirtschaft ist in ständigem Kontakt mit den Stadtbewohnern. Einerseits besteht Druck auf die landwirtschaftlichen Flächen (Bausektor, Infrastrukturen, Freizeitaktivitäten), andererseits bietet die Nähe zu 500’000 Verbraucherinnen und Verbrauchern auch Chancen, die lokale Produktion zu fördern und zu verbessern. Dieser enge Kontakt mit der Bevölkerung macht die Genfer Landwirtschaft sehr empfänglich für gesellschaftliche Veränderungen.

Welche Bedeutung hat der Direktverkauf?
Wir gehören zu den drei führenden Kantonen, was den Anteil der Betriebe betrifft, die Direktvermarktung über Hofläden (200 Produzenten), Weinproduktion (220 Rebbauern und 90 Kellereien) und Vertragslandwirtschaft (14 Betriebe) betreiben. Zudem kamen in den letzten Jahren fünf Projekte von Stadthöfen hinzu, die eine wichtige Vermittlungsfunktion für die Genfer Landwirtschaft übernommen haben: Kleinproduktion und Vermarktung der eigenen Produkte, aber auch jene von Berufskollegen im Kanton treffen zusammen und schaffen Raum für die Sensibilisierung der  Öffentlichkeit.

Frankreich liegt sehr nah. Welche Konsequenzen hat dies für die einheimischen Produzentinnen und Produzenten?
Mit 95 Prozent unserer Grenzen zu Frankreich ist der Einkaufstourismus eine unbestreitbare Konkurrenz für unsere lokalen Produkte. Mit dem MA-Terre (Maison de l’alimentation du territoire de Genève) und dem Genfer Amt für die Förderung der Agrarprodukte brachten wir Akteure aus Behörden und Verbänden zusammen, um die Öffentlichkeit für Themen wie Umweltschutz, Erhaltung von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft und Rückverfolgbarkeit der Produkte zu sensibilisieren.

Portrait: Mit beiden Füssen auf dem Boden

Léonie Cocquio übernahm den Genfer Familienbetrieb, auf dem sie aufgewachsen ist, nachdem sie sich einige Jahre lang weg von zu Hause anderen Dingen zugewandt hatte. Doch schliesslich überwogen die Sehnsucht nach dem Boden und nach weniger oberflächlichen Werten.

Heute lebt Léonie Cocquio mit ihrem Mann und ihrer Tochter auf dem von ihrem Urgrossvater erbauten Bauernhof in La Petite Grave. Nach einer Ausbildung zur Grafikdesignerin, Reisen, der Arbeit im Uhrendesign und dem Leben in der Stadt haben die
Höhen und Tiefen des Lebens diese neugierige und charakterstarke Frau dazu veranlasst, ihrem Vater auf dem Bauernhof zur Hand zu gehen. «Wenn es dich einmal gepackt hat, dann lässt es dich nicht mehr los», sagt sie lächelnd. Zuerst ist sie als Partnerin eingestiegen, dann übernahm sie die Betriebsleitung. Ihre Eltern helfen immer noch auf dem Bauernhof mit. Ihre jüngere Schwester, die nicht in der Landwirtschaft tätig ist, lebt ebenfalls auf dem Hof. La Petite Grave liegt am linken Rhône-Ufer, am Rande eines Schwemmlandes, das im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler aufgeführt ist.

Grüne Linsen, die kleinen Energiebomben
Léonie Cocquios Vater und ein Kollege haben hier als Pioniere im Linsenanbau begonnen und diesen Betriebszweig weiterentwickelt. Die Linsen haben sie vor drei Jahrzehnten aus Frankreich mitgebracht. Léonie Cocquio machte mit dem Anbau dieser grünen Linsen weiter und baut sie in sogenannter Extenso-Produktion an (ohne den Einsatz von Fungiziden und Insektiziden und ohne Wachstumsregulatoren). Die gesamte Produktion vermarktet sie direkt an Lebensmittelläden, Cateringunternehmen, Restaurants und Bauernmärkte in der Region. Linsen sind Hülsenfrüchte, die sehr reich an Eiweiss, Ballaststoffen und Mineralien sind. Die einheimische Produktion vermag jedoch die wachsende Nachfrage bei weitem nicht zu befriedigen. Linsen sind eine schwierige Kultur. Sie sind konkurrenzschwach gegenüber Unkräutern, die es zu kontrollieren gilt, und sie weisen eine geringe Standfestigkeit auf. Deshalb wird die Leguminose häufig in Kombination mit einer anderen Kultur angebaut, die den Linsen als Stütze dient.

Die Natur im Herzen
Schon als Kind wurde Léonie Cocquio von der Natur berührt. Liebend gerne erinnert sie sich beispielsweise daran, wie sie mit ihrer Klasse eine Hecke gepflanzt hat. Als Betriebsleiterin war sie von Anfang an aktiv beim Agrar-Umweltnetzwerk der Genfer Champagne dabei. So pflanzte sie auf ihrem Land alte Sorten von Hochstammobstbäumen und säte eine Wiese neu ein mit Wildsamen, die vom benachbarten Naturschutzgebiet stammten. Des Weiteren wertete sie eine Wiese auf, um Orchideen und andere natürlich vorkommende Pflanzen zu fördern. Diese Fläche erreicht im Biodiversitätsförderprogramm des Bundes Qualitätsstufe 2 für besonders artenreiche Flächen und wird mit Direktzahlungen unterstützt.

Frei das zu tun, was einem gefällt
Als kreative Frau, die in verschiedenen Ausschüssen und Verbänden tätig ist, zählt sie ihre Stunden nicht. Auch wenn – aufgrund der fehlenden körperlichen Kraft – die Hilfe eines Mannes manchmal notwendig wäre, kommt sie in der immer noch sehr Männer dominierten landwirtschaftlichen Welt gut zurecht. «Die geschlechterspezifische Berufswahl sollte nicht länger Teil unserer Gesellschaft sein. Wir sollten frei sein, den Beruf auszuüben, der uns gefällt», plädiert sie und lässt dabei ihrer Lebensfreude freien Lauf. Sie geniesst es mit Genugtuung, eine oft auf Schein basierende Welt verlassen zu haben, um sich mit Körper und Geist in nützlichere und konkretere Aktivitäten zu vertiefen. In direktem Kontakt mit dem, was sie umgibt.

Betriebsporträt
Cartigny GE, 430 m.ü.M., Talzone; Betriebsleiterin Léonie Cocquio, eine Festangestellte und
Aushilfskräfte im Rebbau; 35 ha Feldfrüchte und 7 ha Reben; Produktionsart: Extenso und Herkunftslabel GRTA (Region Genf – Terre Avenir); Direktvermarktung: Grüne Linsen und Wein aus der Cave de Genève

 
Möchten Sie die Vielfalt der Genfer Landschaft entdecken? 2019 wurde ein Heft «L’agriculture genevoise en quête de nature» veröffentlicht. Es gibt zahlreiche Wanderungen, welche Ihnen das Genfer Terroir oder die aussergewöhnliche Flora näherbringen. Weitere Infos auf www.geneveterroir.ch/map oder flowerwalks.ch.

Dieser Artikel erschien in der Agricultura-Ausgabe 2/2020. Fotos © I. & M. Flückiger, Luis Fernandez

  • AutorIn Anne Berger

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