«Ich möchte die Chancengleichheit fördern»

Anne Challandes ist Bäuerin im Kanton Neuenburg, Anwältin und seit 2019 Präsidentin des Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverbandes (SBLV). In dieser Funktion ist sie auch Vizepräsidentin des Schweizerischen Bauernverbands. 1932 als Schweizerischer Bäuerinnenverband gegründet, zählt der SBLV heute mehr als 50’000 Mitglieder und versteht sich als Netzwerk der «Frauen vom Land». Der SBLV verantwortet die Ausbildung zur «Bäuerin / bäuerlicher Haushaltleiter FA», engagiert sich in der Ernährungs- und Hauswirtschaft sowie in der Agrar-, Familien- und Sozialpolitik.

Präsidentin des SBLV und damit von über 50’000 «Frauen vom Land»: Anne Challandes. Foto: Matthieu Spohn

Anne, wer ist für dich eine Bäuerin?
Es gibt so viele verschiedene Bäuerinnen: solche, die Betriebsleiterinnen sind, solche, die keine Verantwortung übernehmen wollen, solche, die sich nicht als Bäuerin bezeichnen, aber genau diese Rolle übernehmen, solche, die sich Bäuerinnen nennen, aber eine andere Rolle haben, oder solche, die auf dem Hof oder ausserhalb des Hofes arbeiten. Die «Bäuerin» kann auch ein Mann sein. Ich habe eine breite und integrative Vision.

Diese breite und offene Definition des Begriffs Bäuerin und das gesellschaftliche Bild von aussen sind aber nicht immer deckungsgleich.
Es stimmt, dass wir oft darauf angesprochen werden. Beim SBLV lehnen wir die Traditionen nicht ab, aber wir lassen uns auch nicht darauf reduzieren. Manchmal werden wir angefragt, um in der Tracht einen Aperitif zu servieren. Einmal kam es sogar vor, dass dafür kein Budget vorgesehen war. Es ist also auch die Gesellschaft, die dieses Bild von uns aufrechterhält. Ausserdem: Sprechen wir hier vom Klischee der Bäuerin, oder generell vom Frauenbild?

Mit dem Begriff steht auch die Ausbildung zur «Bäuerin / bäuerlicher Haushaltleiter FA» in der Kritik. Was einst als Errungenschaft galt, nämlich eine Ausbildung mit Fachausweis, die zu Direktzahlungen, Starthilfen und Investitionskrediten berechtigt, empfinden heute viele als Zementierung veralteter Rollenmuster. Wie siehst du das?
Sobald wir hinter den Namen schauen und uns mit den Inhalten der Module beschäftigen, sehen wir, wie breit und interessant diese sind. Manche Leute bleiben am Begriff «Haushalt» hängen. Aber wir sprechen von Hauswirtschaft, das ist ein Betriebszweig. Wenn du diese Aufgaben wirtschaftlich und rentabel erledigst, sind das Einsparungen für den Betrieb und Zeit, die anderweitig genutzt werden kann. Die erworbenen Kenntnisse sind auch auf dem Hof nützlich (z. B. für die Hygiene). Sie umfassen auch alles, was mit den Auszubildenden, Angestellten und dem Personal zu tun hat. Und die Selbstversorgung, z.B. über den Garten, kann Teil des Gesamtkonzeptes sein.

Seit 2000 haben mehr als 2100 Frauen und ein Mann, diesen Titel erworben und damit einen Status erlangt. Man könnte die Frage auch andersherum stellen: Wenn es diese Ausbildung nicht gäbe, wo stünden diese Menschen heute? Die junge Frau, die eines Tages Betriebsleiterin werden möchte, muss sich aber tatsächlich überlegen, welche Ausbildung für sie am besten geeignet ist. Und sich eventuell für die Ausbildung zur Landwirtin oder Agronomin entscheiden.

Die Ausbildung zur «Bäuerin / bäuerlicher Haushaltleiter FA» liegt im Trend. Hätten die Module mit einer zeitgemässeren Berufsbezeichnung nicht einen noch grösseren Zulauf – z.B. von Männern oder Personen von ausserhalb des landwirtschaftlichen Umfeldes?
Sobald die Revision der Grundausbildung abgeschlossen ist, kann die Revision der höheren Ausbildung beginnen, und diese Frage wird natürlich auf den Tisch kommen. Fragen zu den Übergängen zwischen den Ausbildungen können diskutiert werden. Mein Motto ist, zu ändern, was geändert werden muss, ohne zu verlieren, was gut ist. Sich die richtigen Fragen zu stellen ist entscheidend. Bereits heute ist es möglich, den gesamten Lehrgang oder einzelne Module zu absolvieren, und die Ausbildung ist auch für Männer zugänglich. Einige Module können auch als Option im Rahmen der landwirtschaftlichen Weiterbildung besucht werden. Einige Männer, die solche Module absolviert haben, berichten, dass es sich um die beste Weiterbildung handelt, die sie je besucht haben. Es ist klar, dass für Fortschritte bei der Gleichstellung nicht nur die Frauen für gleiche Rechte kämpfen müssen. Auch Männer müssen eine Rolle spielen. Und die Möglichkeit oder Verpflichtung, in Fächern zu lernen, die typischerweise Frauen zugeschrieben werden, trägt dazu bei. Die Landwirtschaft hat den grossen Vorteil, dass Rollen und Aufgaben flexibel kombiniert werden können.

Welchen Herausforderungen begegnen Frauen im Jahr 2023 in ihrem bäuerlichen Alltag?
Da gibt es viele! Ihren Platz zu erhalten. Dass ihre Arbeit und Kompetenzen anerkannt werden. Dann geht es um Fragen nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, in Absprache mit dem Partner oder der Partnerin. Die Themen auf den Tisch legen zu können, sich trauen, die eigene Meinung zu sagen und gehört zu werden. Vor allem, wenn frau nicht Betriebsleiterin oder Co-Leiterin ist, ist das nicht immer einfach. Es geht auch darum, Anerkennung in der Gesellschaft zu erlangen: Das Image der Bäuerin hat einen hohen Stellenwert, aber gleichzeitig wird sie kaum anerkannt und ist anfällig für Vorurteile. Und es gibt die konkreten Probleme. Es gab zwar eine positive Entwicklung bei der Bezahlung und der sozialen Absicherung. Doch gibt es in der Landwirtschaft immer noch Frauen, die nicht bezahlt werden oder unzureichend abgesichert sind.

Derzeit finden Diskussionen zur Revision des bäuerlichen Bodenrechts statt. Es geht um Fragen wie Zugang zu Land oder die Ungleichheit zwischen Ehepartnern und Ehepartnerinnen, insbesondere im Falle einer Scheidung. Als Juristin sage ich klar: Im geltenden Recht gibt es keine Ungleichheit. Ein Junge oder ein Mädchen haben rechtlich dieselben Chancen. Das Problem bleibt zwischen einem Jungen und einem Mädchen das Gleiche, wie zwischen zwei Schwestern oder zwei Brüdern. Und es gibt die Möglichkeit, dass mehrere Personen einen Betrieb übernehmen, z. B. in einer Partnerschaft. Das sind Konzepte, die wir auch hinterfragen müssen. Fortsetzung des Interviews nach der Bildergalerie.

 

Fotos aus: “Vom Eiergeld zur AHV. Die Landwirtschaft wird weiblich” von Vanessa Simili, siehe Infobox am Ende des Interviews. Copyright Daniel Rihs.

 

Der SBLV setzte und setzt sich für eine bessere soziale Absicherung der Bäuerinnen ein. Wo stehen wir da?
Einiges ist bereits passiert, es ist in Bewegung. Der erste Schritt in der AP22+ wurde in diesem Frühjahr ohne jegliche Diskussion im Parlament angenommen. Am Anfang, als diese Bestimmung der AP22+ in die Vernehmlassung geschickt wurde, gab es Widerspruch aus landwirtschaftlichen Kreisen: Das sei nicht möglich, das werde teuer, die Betriebe könnten sich das nicht leisten. Hier hat der SBLV viel getan, um die Notwendigkeit zu erklären, um den gesamten Berufsstand voranzubringen. Zudem hat dies geholfen, die Sensibilisierungskampagne von SBV, SBLV, Agrisano und Prométerre ins Leben zu rufen. Es war mir wichtig, etwas proaktiv in der Branche einzuführen, um Verbesserungen bereits vor Inkrafttreten der Bestimmung zu implementieren. Diese Kampagne hatte als Zielgruppe nicht nur die Bäuerinnen, aber eben auch die Bauern, die Ausbildung, die Berater und die Treuhänder. Denn letztendlich braucht es alle, um eine Verbesserung herbeizuführen.

Aber ich sage gerne, dass es ein erster Schritt ist. Denn diese Lösung in der AP erwähnt zwar Entschädigungen für Erwerbsausfall und eine Deckung in der Vorsorge gegen die Risiken von Invalidität und Tod, aber sie spricht nicht vom Einkommen.

Die im Oktober 2022 veröffentlichten Zahlen des BLW (s. Studie: Frauen in der Landwirtschaft, 2022) zeigen eine positive Entwicklung beim Einkommen, bei der sozialen Absicherung, bei der Vorsorge und auch bei der Beteiligung von Frauen an der Leitung von Landwirtschaftsbetrieben. Es ist wichtig, diese Zahlen regelmässig zur Verfügung zu haben. So können wir Fortschritte sehen, aber auch, was noch zu tun ist. Ich kann mich auf diese Zahlen stützen, die auch die finanzielle Beteiligung der Frauen am Nutzen der Betriebe hervorheben – sowohl durch die Aktivität innerhalb des Betriebs als auch durch externe Einkünfte. Die Zahlen zeigen, dass wir Frauen einen bedeutenden Beitrag zum Erfolg der landwirtschaftlichen Betriebe leisten.

Was sagst du jungen Frauen, die sich im klassischen Rollenverständnis, das in der Landwirtschaft nach wie vor herrscht, nicht gesehen und akzeptiert fühlen?
Ich würde ihnen sagen: Fühlt euch stark und traut euch, eure Stimme zu benutzen. Stützt euch auf unser Netzwerk. Aber das allein reicht nicht, es muss auch durch die Rahmenbedingungen und das Umfeld ermöglicht werden.

Das ist allerdings nicht ein Problem, das nur in der Landwirtschaft auftritt. Es existiert auch in anderen Sektoren. Die Arbeit unseres Verbandes und die Ausbildung zur Bäuerin / zum bäuerlichen Haushaltsleiter mit eidgenössischem Fachausweis ermöglichen es, Sichtbarkeit und Anerkennung zu erlangen und einen Betrieb zu übernehmen. Wir arbeiten also auch an diesen Rahmenbedingungen. Das hängt jedoch nicht nur von uns ab. Ich sage es auch oft im Zusammenhang mit der sozialen Absicherung: Es ist nicht nur in der Verantwortung der Frau, zu sagen: „Ich will“, es ist auch die Verantwortung der anderen – der Männer oder der landwirtschaftlichen Organisationen – Platz dafür zu schaffen.

Bietet der SBLV auch konkrete Unterstützung für Betriebsleiterinnen?
Ja und nein. Nein z. B. in Bezug auf Aspekte der Landtechnik und Agronomie. Ja in Bezug auf den Rest. Es geht uns darum, ihnen erstens zu zeigen, dass wir bereits ein Netzwerk und Unterstützung bieten und zweitens, dass sich unser Verband ständig weiterentwickelt, um sich den Bedürfnissen und Anliegen der Frauen vom Land, einschliesslich der Betriebsleiterinnen, anzupassen. Unser Name ist zwar «Bäuerinnen und Landfrauen», aber wir arbeiten typischerweise in diesen Fragen auch zu ihren Gunsten, indem wir uns auf der Ebene der Rahmenbedingungen, des Bodenrechts oder der Sensibilisierung engagieren.

Wenn man sieht, dass von den Frauen unter 35 Jahren 26 % alleinige Betriebsleiterinnen sind (Im Schweizer Durchschnitt ist der Anteil an Frauen an der Spitze von Betrieben in 10 Jahren von 5 % auf 9 % gestiegen. Studie: Frauen in der Landwirtschaft 2022), und wenn man den Frauenanteil in der landwirtschaftlichen Ausbildung (Agronomie und EFZ) beobachtet, stellt man fest, dass sich die Landwirtschaft in Richtung mehr Betriebsleiterinnen im engeren Sinne und weniger Bäuerinnen, die mit Bauern verheiratet sind, entwickelt. Dem müssen wir Rechnung tragen.

Bei der Diskussion um Gleichstellung geht es nicht nur um die Frau/Mann-Frage, sondern generell um Rollenbilder – in der Landwirtschaft z.B. um das Narrativ des «Familienbetriebs» als Ideal. Wo siehst du die Rolle des SBLV in dieser Diskussion?
Für mich ist es wichtig, dass das Land in landwirtschaftlichen Händen bleibt. Das muss bewahrt werden. Das Konzept des Familienbetriebs ist leicht zu definieren und zu verstehen. Doch wie deuten wir heute den Begriff der «Familie»? Für mich ist es eine Gruppe von mehr als einer Person – unabhängig von Zivilstand, Geschlecht und Struktur – mit einer starken Bindung. Man muss auch das Konzept beibehalten, dass Menschen mit dem Land und der Arbeit verbunden sind, und einen definierbaren Umriss finden. Ich sehe sowohl die Chancen, die diese Personen von aussen der Landwirtschaft bieten, als auch die Risiken einer Öffnung. Das Bild des Familienbetriebs jedoch, der vom Vater an den ältesten Sohn weitergegeben wird, ist überholt. Es fällt auf, dass diejenigen Betriebe gut funktionieren, bei denen ein Team an der Spitze steht. Es ist leichter, strategische Entscheidungen von Mehreren zu tragen, unabhängig von der Struktur.

Wie bei der Ausbildung besteht die Rolle des SBLV in dieser Diskussion darin, zu erkennen was beibehalten werden soll und was geändert werden muss. Wir versuchen, dazu beizutragen, dass die Rahmenbedingungen angepasst werden, damit jede und jeder den Platz einnehmen kann, den sie oder er möchte. Als Juristin mag ich keine Ungleichheiten. Ich will Chancengleichheit fördern und dafür müssen Räume geschaffen werden.

Welche politischen Ziele verfolgt der SBLV in den kommenden Jahren?
In Bezug auf Frauen in der Landwirtschaft und im Allgemeinen gibt es noch einiges zu tun, z. B. mit der Frage nach Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die auch das Leben auf den landwirtschaftlichen Betrieben betrifft. Wir beschäftigen uns auch mit Fragen der Ernährung und der Agrar- und Ernährungspolitik, einschliesslich der Entwicklung der Landwirtschaft mit der zukünftigen Ausrichtung der Agrarpolitik. Derzeit führen wir unter anderem ein Projekt zur Unterstützung und Förderung von Frauenkandidaturen bei den Eidgenössischen Wahlen 2023 durch, um mehr Frauen in der Politik zu haben. Das ist wichtig, damit Frauenthemen auf der politischen Agenda bleiben.

 

Vom Eiergeld zur AHV 

Ob Bauerntochter, Landwirtin oder Quereinsteigerin: Die Karrieren von Frauen in der Landwirtschaft sind in ihrer Vielfalt exemplarisch für unsere Zeit. Das journalistische Projekt von Vanessa Simili lässt diese Frauen zu Wort kommen. Es macht den Wandel sichtbar, welchen die Rolle der Bäuerin gerade erfährt, und sensibilisiert für die Wichtigkeit des weiblichen Parts auf dem landwirtschaftlichen Betrieb. zvg 

Publikation: “Vom Eiergeld zur AHV. Die Landwirtschaft wird weiblich” Sieben Textporträts von Vanessa Simili, Projektinitiantin, mit Fotos von Daniel Rihs.
www.fraueninderlandwirtschaft.ch 

Film Screening: 27. August 2023, Bildungszentrum Wallierhof, 4533 Riedholz.

Virtuelle Ausstellung: QR-Code scannen und Filmporträts der Frauen zu Hause entdecken.

 

  • Dieser Artikel erschien in der Agricultura-Ausgabe 3/2023. Mit Anne Challandes sprachen Barbara Küttel und Annemarie Raemy.

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