Das Puschlav zeigt, was möglich ist

Am 13. Juni stimmen wir über die Initiative für eine Schweiz ohne synthetische Pestizide ab. Die Gegnerinnen und Gegner der Initiative behaupten, das sei das Ende der produzierenden Landwirtschaft. Doch im Puschlav ist Realität, was für den Rest der Schweiz noch in weiter Ferne scheint: Mehr als 90 % der Agrarfläche werden biologisch bewirtschaftet.

Vielfältige Landschaften sind das Resultat einer vielfältigen landwirtschaftlichen Nutzung. Bild: Daniele Raselli

Reto Raselli ist Biobauer aus Überzeugung. In den 70er Jahren hat er den Grundstein für den heutigen Betrieb gelegt, in einem Moment, in dem viele Bauern im Dorf aufgehört haben. Zuerst noch mit Milchkühen, hat er bald auf Mutterkuh-Haltung umgestellt – Rhätisches Grauvieh mit Hörnern, wie er betont. Dazu hält er eine Herde Bündner Strahlenziegen für Oster- und Herbstgitzi, einige Mastschweine, Legehennen und eine kleine Gruppe Esel. Ab 1981 begann der Aufbau des Betriebszweiges, dem Reto Raselli seinen Ehrentitel «Kräuterkönig» verdankt. Reto Raselli schmunzelt: Zwar sei die Idee für den Anbau von Kräutern ursprünglich nicht von ihm gekommen, aber er habe die Anbaugenossenschaft Coperme Valposchiavo mitbegründet, in der bis heute alle Kräuterproduzentinnen und -produzenten des Tals zusammengeschlossen sind. Heute, 40 Jahre später, ist er einer der grösste Kräuterproduzenten der Schweiz. Seine Kräuter sind in den Kräuterbonbons von Ricola zu finden, aber auch in Teemischungen, die über Direktvermarktung oder den Detailhandel vertrieben werden. 2019 hat er den landwirtschaftlichen Betrieb seinem Neffen übergeben, die Weiterverarbeitung der Kräuter liegt aber weiterhin bei ihm.

 

Bio als Standortvorteil

Von Anfang an wurden die Kräuter aus dem Puschlav im naturgemässen Anbau produziert. Wer der Anbaugenossenschaft beitreten wollte, konnte dies nur unter der Bedingung tun, dass der Betrieb biologisch bewirtschaftet wurde. Raselli betont, dass dies gerade beim Kräuteranbau ein entscheidendes Verkaufsargument sei: «Wer will schon mit Gift behandelte Heilkräuter kaufen?». Dabei ist der Kräuteranbau sehr anspruchsvoll. Neben dem Wetter stellt vor allem die Unkrautbekämpfung hohe Anforderungen an die Produzentinnen und Produzenten. Jäten ist der mit Abstand arbeitsintensivste Teil der Arbeit. Weil viele Kräuter mehrjährig sind, startet die Unkrautbekämpfung bereits im Frühling und dauert über die Ernte hinaus bis in den Herbst. Zwar hat die Technik in den letzten Jahren gute Fortschritte gemacht. Aber noch immer ist sehr viel Handarbeit nötig. Der zweite Grundstein für den hohen Bioanteil im Puschlav findet sich ein paar Kilometer talaufwärts: Die Käserei von San Carlo hat in den Jahren 1987/88 auf biologische Produktion umgestellt. Aufgrund der Nachfrage nach Bio-Käse in Zürich bestand bereits ein Markt, und weil im Berggebiet praktisch kein Kunstdünger eingesetzt wird, war die Umstellung keine grosse Sache, erzählt Gianluca Giuliani, dessen Vater damals in San Carlo Käser war. In den Anfangsjahren verarbeitete die Käserei auch noch konventionelle Milch, doch bereits nach zwei bis drei Jahren fiel der Entscheid, ausschliesslich biologisch zu produzieren. Alle Lieferanten haben auf Bio umgestellt und der Bioanteil im Tal stieg rasch an. Mit der Fusion der beiden noch bestehenden Käsereien von San Carlo und Poschiavo zur Genossenschaft Caseificio Valposchiavo stieg der Bioanteil der bewirtschafteten Fläche im gesamten Tal bis 2010 auf über 90 % an.

Carlo Mengotti, der aktuelle Präsident der Käsereigenossenschaft, war lange Zeit als landwirtschaftlicher Berater im Kanton Graubünden tätig. Er betont die Bedeutung der Unterstützung von Aussen, beispielsweise die Umstellungsbeiträge des Kantons Graubünden. Der damalige Leiter des Landwirtschaftsamts habe früh begriffen, dass die biologische Landwirtschaft für den Bergkanton wichtig sei und habe sie dementsprechend gefördert. Später seien die Beiträge des Bundes dazu gekommen, die für die Entwicklung hin zu Bio im ganzen Kanton Graubünden, wo der Bioanteil ebenfalls bei rund 60 % liegt, entscheidend gewesen seien. Zudem sei das Vermarktungsargument sehr wichtig gewesen: Die Nachfrage nach biologisch produziertem Käse aus dem Berggebiet habe die Umstellung entscheidend vereinfacht.

 

Schon bald hundert Prozent Bio?

Heute steht das Puschlav an einem anderen Punkt: 2012 wurde ein regionales Entwicklungsprojekt (PRE) eingereicht mit dem Ziel, die Wertschöpfungskette in der Region zu stärken, die lokale Verarbeitung zu fördern und die Landwirtschaft im Val Poschiavo längerfristig zu 100 % als Bio zu zertifizieren. Das Projekt ging von drei wichtigen Eigenschaften aus, welche das Puschlav ausmachen. Zum einen das geografische Element, ein Bergtal, welches sich über 25 Kilometer von 500 bis 2000 m ü. M. erstreckt. Diese landschaftliche Vielfalt spiegelt sich in der Bewirtschaftung wieder, die von der typischen Berglandwirtschaft, über Ackerbau bis zu Gemüse- und Weinbau im unteren Teil des Tals reicht. Zum anderen vereint das Puschlav viele kulinarische Einflüsse aus Nord und Süd und führt diese zu lokalen Eigenheiten zusammen. Ein Beispiel dafür sind die Pizzoccheri, die heute wieder aus lokalem Bio-Buchweizen hergestellt werden. Schliesslich ist der hohe Bioanteil ein wichtiges Standortargument. Insbesondere für den Tourismus sind diese drei Aspekte sehr wichtig und sie werden gefördert, etwa mit dem Label 100 % Valposchiavo, das an Produkte vergeben wird, die vollständig aus dem Valposchiavo stammen. Ein Anteil von 90 – 95 % biologischer Landwirtschaft, wie er im Puschlav im Moment besteht, ist schweizweit einzigartig und wird auch weltweit nur von ganz wenigen anderen Regionen, etwa Bhutan oder dem indischen Bundesstaat Sikkim, erreicht.

Für die Initianten des Projekts 100 % Bio Valposchiavo ist dieses Modell nicht pauschal auf die ganze Schweiz übertragbar. Denn auch im Puschlav sind die letzten fünf Prozent Bio nicht so einfach zu erreichen. Während die Viehwirtschaft im oberen Teil des Tals vollständig biologisch funktioniert, hat zum Beispiel ein Beerenproduzent in Brusio noch nicht umgestellt, obwohl er dies gerne möchte. Ein wichtiger Grund dafür ist ausgerechnet das UNESCO-Weltkulturerbe der Bahnstrecke über den Berninapass. Um auf Pestizide verzichten zu können, müsste er seine Beerenkulturen grossflächig abdecken. Doch würde das Weltkulturerbe diese Veränderung des Landschaftsbilds akzeptieren? Und wie reagieren die Durchreisenden, wenn die Terrassen am Hang unter feinen Netzen verschwinden?

 

Die Rahmenbedingungen sind entscheidend

Daniele Raselli, der Leiter des Projekts, betont, dass das Ziel von 100 % Bio zwar nach wie vor Bestand habe, aber im Sinne einer längerfristigen Vision. Auf die Frage, ob eine ähnliche Entwicklung auch in der ganzen Schweiz denkbar sei, antwortet er: «Das Projekt 100 % (bio) Valposchiavo ist nur auf die ganze Schweiz übertragbar, wenn klare und faire marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen geschaffen werden und die Konsumentinnen und Konsumenten bereit sind, eine solche Entwicklung zu unterstützen. Unser Konzept ist in dieser Hinsicht ein positives Fallbeispiel dafür, wie ausgehend von lokalen Gegebenheiten eine Landwirtschaft entwickelt werden kann, die auf den vorhandenen Ressourcen aufbaut und diese sinnvoll und nachhaltig weiterentwickelt.»

Für Gianluca Giuliani, der selbst auf einem Landwirtschaftsbetrieb im Puschlav aufgewachsen ist und das PRE eng begleitet hat, ist das ganze Projekt auch ein soziales Experiment: «Sowohl für die Einheimischen als auch für die Gäste ist es wichtig zu verstehen, warum das Ziel von 100 % Bio wichtig ist.» Giuliani betont, dass mit dem Konzept der regionalen Wertschöpfungsketten keine Abschottung angestrebt werde. Das Puschlav als altes Durchgangstal für den Warenverkehr sei auf offene Grenzen angewiesen. Das Ziel sei nicht, autark zu werden, vielmehr sei die Frage wichtig, wie die Idee von 100 % Bio auch im Handel umgesetzt werden könne.

 

Im Val Poschiavo denkt man weiter

Im Puschlav ist die Abstimmung über die Agrarinitiativen kein grosses Thema unter den Landwirten. Man weiss, dass der Verzicht auf Pestizide möglich ist. Was die Menschen im Tal beschäftigt, sind Wolf und Bär. Daniele Raselli sieht hier eine wichtige Möglichkeit zur Weiterentwicklung: Die Förderung der Biodiversität würde nämlich den Umgang mit diesen Grossraubtieren erleichtern. Auch Gianluca Giuliani sieht trotz allen Erfolgen noch viele Baustellen, und dies im wörtlichen Sinn. Gerade im Umgang mit der Landschaft und dem Boden sei die Philosophie des nachhaltigen Umgangs mit den Ressourcen im Tal noch längst nicht überall angekommen.

Kornblumen sind eine Spezialität der Erboristeria Raselli. Foto: Reto Raselli

Für Reto Raselli ist das Puschlav der Beweis, dass die biologische und damit die pestizidfreie Landwirtschaft funktioniert. Entscheidend sei die Einstellung der Bauern. Wenn Bio schlecht geredet wird, stellt niemand um. Umgekehrt helfen die guten Erfahrungen von Berufskolleginnen und -kollegen bei der Umstellung. Darin zeigt sich auch ein weiterer Vorteil der geografischen Lage des Puschlavs. Der Druck, unter dem die Bauern im Unterland stehen, scheint hier weniger gross zu sein. Oder wie es Carlo Mengotti formuliert: Der Bauernverband ist weit weg vom Puschlav! Mit einem Ja am 13. Juni unternimmt die Schweiz einen wichtigen Schritt hin zu einer pestizidfreien Landwirtschaft. Das Puschlav hat jetzt schon gezeigt, was mit Hilfe einer innovativen und wegweisenden Strategie möglich ist!


Dieser Artikel erschien in der Agricultura-Ausgabe 2/2021.

  • AutorIn Stephan Tschirren

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