«Wir müssen unsere Hoftüren öffnen»

Marlen Koch führt mit ihrem Mann Stephan den Bergbauernhof Obermettlen im luzernischen Root in dritter Generation. Zusammen verwirklichen sie dort ihre Vision einer nachhaltigen und solidarischen Landwirtschaft, die respektvoll mit Natur, Tier und Mensch umgeht. Herzstück des Betriebs: Die Herbstzeitlosen-Herde, in der fünf alte Mutterkühe eine zweite Chance erhalten haben. Mit diesem Projekt sind sie nun für den Prix Climat 2022 nominiert.

Fotos: Tina Sturzenegger und Christian Merz, 2021

 

Marlen, was ist dein Verständnis von Landwirtschaft?

Als Landwirte bewirtschaften wir das Land, um daraus hochwertige, gesunde Lebensmittel zu gewinnen. Das ist für mich einer der wichtigsten Berufe überhaupt, denn wir alle müssen essen, um zu überleben. Entsprechend haben wir eine grosse Verantwortung gegenüber den Tieren, der Natur, den Menschen und auch der nächsten Generation.

Erklär uns bitte euer Projekt «Herbstzeitlose» und die Idee dahinter.

Unser Hof besteht aus Wiesen und Weiden in Hanglage, auf denen wir keinen Ackerbau betreiben und somit keine Lebensmittel für den direkten Konsum durch die Menschen herstellen können. Wir brauchen also die Wiederkäuer, um das Gras in wertvolles Protein für den menschlichen Verzehr umzuwandeln. Wenn wir die Tiere für unsere Zwecke nutzen, war es uns aber wichtig, dies respektvoll, artgerecht und nachhaltig zu tun – Und dass die wertvollen Lebensmittel, die daraus entstehen, von den Konsumentinnen und Konsumenten auch wertgeschätzt werden. So ist das Projekt «Herbstzeitlose» entstanden.

«Herbstzeitlose» ist Solidarische Landwirtschaft im Bereich Nutztierhaltung: Wir machen die Konsumentinnen und Konsumenten zu Bauern. Die Basis des Projekts bilden fünf alte Mutterkühe der ProSpecieRara-Rasse Rätisches Grauvieh, die eigentlich geschlachtet werden sollten. Sie sind unsere Herbstzeitlosen und erhalten auf der Obermettlen eine zweite Chance. Jedes Kalb, das sie gebären, erhält acht Patinnen und Paten. Diese bezahlen je zwei Jahre lang einen Franken pro Tag. An Bauernhoftagen können sie aktiv auf dem Hof mitarbeiten und so einen Einblick erhalten, was hinter einem Bissen Fleisch steckt. Nach zwei Jahren schliesst sich der Lebenskreislauf unserer Tiere durch die Hoftötung. Und so wird aus ihnen wertvolles Rindfleisch, von dem die Patinnen und Paten ihren Anteil erhalten. Dadurch sensibilisieren wir für bewussten Fleischkonsum.

Nebst den Herbstzeitlosen-Patenschaften habt ihr auch andere Projekte – eine Hornkuh-Gönnerschaft, oder die Baumpatenschaft mit Hochstammbäumen. Wie fügt sich das alles zusammen?

Die Landwirtschaft birgt neben der Lebensmittelproduktion viele weitere Potentiale. Denn unsere Gesellschaft ist im Wandel. Nachdem der Konsument in den letzten Jahrzehnten immer mehr von der Produzentin weggerückt ist, suchen viele Menschen wieder den Bezug zur Landwirtschaft. Sie wollen erfahren, wie ihre Lebensmittel entstehen. Das ist eine Chance für uns Kleinbäuerinnen und Kleinbauern. Wir öffnen unsere Hoftüren und gewähren Einblick in unsere Arbeit. Der Konsument kann dadurch Landwirtschaft hautnah erleben und wir generieren zusätzliche Wertschöpfung, die zu unserer Existenz beiträgt. Durch den direkten Kontakt zur Konsumentin spüren wir ihre Bedürfnisse. So ist zum Beispiel die Hornkuhgönnerschaft entstanden. Das sind Menschen, die unser Projekt unterstützen und an Bauernhoftagen mitarbeiten, aber als Gegenleistung kein Fleisch möchten.

Ihr macht auf eurem Hof den Konsumenten zum (Mit-)Bauern. Weshalb ist für dich der Einbezug der Konsumentinnen in der Landwirtschaft so wichtig?

Wie sollen die Konsumentinnen und Konsumenten heute den wahren Wert eines Produktes erkennen, wenn sie die Landwirtschaft nur aus den Werbekampagnen der Lebensmittelindustrie kennen und von einer Fleischaktion nach der anderen in die Läden gelockt werden? Wenn wir den Nahrungsmitteln ihren wahren Wert zurückgeben wollen, müssen wir unsere Hoftüren öffnen und den Konsumenten die Möglichkeit geben mitzuerleben, wie sie entstehen.

Wo legst du in deiner täglichen Arbeit den Fokus? Was ist dir besonders wichtig?

Meine Arbeit ist sehr vielseitig: Betreuung der Mutterkuhherde, Obstbau, Futterbau, Produktherstellung, Marketing und Verkauf, «Nose to Tail»-Grillkurse, Hofführungen, Events. Der Fokus liegt deshalb immer auf dem, was gerade als Nächstes ansteht. Ich versuche, die Dinge bewusst und achtsam zu machen, eines nach dem anderen. Das gelingt mal besser, mal weniger gut. Besonders wichtig ist dabei, bewusst Pausen und Auszeiten für uns einzubauen.

Was ist das bisher beeindruckendste Erlebnis aus deinem Bäuerinnen-Alltag?

Der Bauernhofalltag ist zuweilen streng und herausfordernd, aber reich an wertvollen Momenten. Ich hätte früher nie gedacht, dass ich das mal sage. Aber am tiefsten berührt hat mich die Hoftötung, für die wir hart gekämpft haben. Wir begleiten unsere Tiere vom ersten bis zum letzten Atemzug. Beide machen sie auf unserem Hof, in ihrer vertrauten Umgebung, ohne Stress und Angst. Die Hoftötung ist sehr würdevoll, ein Moment voller Ehrfurcht und Dankbarkeit. Das hat mich und meinen Bezug zu Fleisch komplett verändert. Fleisch ist für mich zum wertvollsten Lebensmittel überhaupt geworden. Wir essen weniger, viel bewusster und fast nur noch das eigene Fleisch.

Weshalb engagierst du dich für die Kleinbauern-Vereinigung?

Stephan und ich sind beide auf Kleinbauernhöfen aufgewachsen, die den Vollerwerb aufgeben mussten, um zu überleben. Und viele der Kleinbauernhöfe um uns herum verschwinden ganz. Wir haben es nun mit viel Herzblut und Durchhaltewillen und vor allem mit der Unterstützung unserer Patinnen und Kunden geschafft, die Obermettlen wieder in einen Vollerwerb zurückzuführen. In der Kleinbauern-Vereinigung kann ich mich mit meinem Wissen und meiner Erfahrung einsetzten für den Erhalt einer kleinstrukturieren, vielfältigen Landwirtschaft.

Du und Stephan habt euch mit eurem Projekt «Herbstzeitlosen» für den «Prix Climat» beworben – Was war die Motivation?

Wir wollen uns für standortgerechte Fleischproduktion engagieren und für bewussten Fleischkonsum sensibilisieren. Die Nutztierproduktion hat eine hohe Klimarelevanz und wird sich künftig verändern müssen. Die Debatte muss jedoch differenziert geführt werden. Eine Kuh, die sich ausschliesslich von Grasland ernährt auf Flächen, die für den Ackerbau nicht geeignet sind, leistet einen wichtigen Beitrag für die Welternährung. Ganz nach dem Motto «No feed from crops, but food from grass». Und die Schweiz hat als Grasland viele solche Flächen.

Wir wollen sichtbar machen, dass es nachhaltige Landwirtschaft bereits gibt. Denn der Wandel in der Politik und in der Gesellschaft geht für uns zu langsam. Er wird von bewahrenden Kräften, die vom bisherigen System profitieren, zu stark gebremst. Wir Konsumenten und Produzentinnen gemeinsam haben aber eine grosse Macht, etwas zu bewegen. Wir möchten den Menschen aufzeigen, dass sie bereits heute mit ihrem Griff ins Verkaufsregal ein Teil des Wandels sein können. Es ist wenig wirksam, an einem Seil zu stossen, man muss daran ziehen. Wir Bäuerinnen können nur produzieren, was vom Konsumenten auch nachgefragt wird.

Was möchtest du noch erreichen?

Wir haben uns mit unserem kleinen Hof, den Events und unserem Herbstzeitlosen-Projekt unseren Lebenstraum aufgebaut. Nun wünsche ich mir, dass wir diesen lange geniessen, viele Menschen damit berühren und weitere Bauern ermutigen können, ihren eigenen Weg zu gehen. Dann bin ich zufrieden. Aber natürlich wird es uns an weiteren verrückten Ideen nicht mangeln!

Du hast drei Wünsche für die Landwirtschaft frei, welche sind das?

WERTSCHÄTZUNG: Ich wünsche mir, dass die Lebensmittel wieder mehr wertgeschätzt werden. Denn Sie sind «Mittel zum Leben».

WERTSCHÖPFUNG: Ich wünsche mir, dass die Lebensmittel als Folge davon wieder mehr wert sind und damit die Wertschöpfung in der Landwirtschaft steigt. Denn dies ermöglicht uns Kleinbäuerinnen und Kleinbauern eine Existenz.

VISION: Ich wünsche mir, dass die Landwirtschaft mutiger als Teil des Wandels vorangeht und Innovationen gefördert anstatt blockiert werden – selbstverständlich beschützend und sorgetragend zu Natur, Tier und Mensch.

 

Marlen Koch-Mathis ist Agronomin MSc Agr ETH mit Fachrichtung Nutztierhaltung und bewirtschaftet mit ihrem Mann Stephan den 6.5 ha grossen Bergbauernhof Obermettlen in Root (LU) in der Bergzone I. Sie betreiben eine Solidarische Landwirtschaft mit einer Mutterkuhherde, Hochstammobstbau mit Baumpatenschaften und Schnapsspezialitäten, «Nose to Tail»-Grillkursen und Kultur-Events. Ihre Leidenschaften sind Fotografieren, Kochen, Wandern und Schwyzerörgele.

 

  • Dieses Interview erschien in der Agricultura-Ausgabe 4/2021. Autorin: Annemarie Raemy

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