«Agrarökologie lebt von der Vielfalt»

Johanna Jacobi leitet an der ETH Zürich die Forschungsgruppe für agrarökologische Transition. Sie hat lange in Bolivien gelebt und gearbeitet. Die Agrarökologie ist einer ihrer Forschungsschwerpunkte. Seit März 2022 ist sie Vorstandsmitglied des neu gegründeten Vereins Agroecology works!

In Bolivien ist viel Wissen zu Agroforstwirtschaft vorhanden, das in Europa und der Schweiz verloren gegangen ist. Photo: Johanna Jacobi.

Johanna, du bist Assistenz-Professorin für agrarökologische Transition. Wo liegt der Fokus eurer Forschung?
Wir bearbeiten drei Themen: Ernährungsdemokratie, wo es darum geht, dass sich Bürgerinnen und Bürger aktiv an der Weiterentwicklung der Agrarpolitik beteiligen. Diese Forschung machen wir vor allem im globalen Süden. Das zweite Thema ist partizipative Aktionsforschung, da forschen wir zum Beispiel zu urbaner Agrarökologie in Zürich. Als Drittes beschäftige ich mich mit dem Thema Agroforst. Dazu habe ich in Bolivien gearbeitet. Nun versuchen wir, dieses Wissen aus dem globalen Süden auch auf die mittleren Breiten anzuwenden.

Was waren in Bolivien die Schwerpunkte deiner Arbeit?
Ich habe von Bolivien aus ein sechsjähriges Forschungsprojekt der Universität Bern zur Ernährungsnachhaltigkeit koordiniert. Im Vordergrund standen Themen wie das Menschenrecht auf Nahrung, die ökologische Verträglichkeit der Landwirtschaft, die Minderung der Ungleichheit im Ernährungssystem, Resilienz und Ernährungssicherheit. Dabei spielte die Agroforstwirtschaft eine wichtige Rolle, weil sie das Potenzial hat, nicht nur CO2 aus der Luft zu holen, sondern auch viel Nahrung zu produzieren und die Artenvielfalt zu erhalten.

Wo bist du in Bolivien dem Begriff Agrarökologie begegnet?
Ich bin dem Begriff sehr oft begegnet. Die Menschen wehren sich gegen die Ausbeutung ihres Landes, Vertreibung und Pestizideinsatz. Die Agrarökologie ist die flächenmässig kleine, aber vielversprechendste Gegenbewegung zur industriellen Landwirtschaft. Denn sie schaut nicht nur die Landwirtschaft, sondern das ganze Ernährungssystem an. Es geht also auch um den Konsum, um die Märkte, um Handelsabkommen.

Welches Potential siehst du für die Agrarökologie in der politischen Diskussion in der Schweiz?
Es ist ein spannender und interessanter Ansatz, weil er transformativ ist. Agrarökologie integriert verschiedene Bewegungen, wie zum Beispiel die Permakultur und auch die Biolandwirtschaft. Es gibt dieses Jahr einen Bürgerinnenrat für Ernährungspolitik, wofür 100 Leute zufällig ausgewählt werden und sich gemeinsam über Ernährungspolitik informieren, austauschen und auch Vorschläge an den Bund machen.

Würdest du das als agroökologisches Projekt bezeichnen?

Eine Kokaplantage, die zu einem Agroforstsystem umgebaut wird in Yungas, Bolivien. Photo: Johanna Jacobi

Auf jeden Fall. Die Mitsprache ist eines der Grundprinzipien der Agrarökologie. Agrarökologie kann man nicht von oben verordnen, sie muss von unten kommen. Dabei werden die sozialen Aspekte der Landwirtschaft und die damit verbundenen politischen Themen noch viel zu wenig diskutiert – zum Beispiel in der Schweiz die Frage nach dem Zugang zu Land. Man hört immer wieder, es wollten zu wenig Menschen in der Landwirtschaft arbeiten. Aber ich glaube nicht, dass das stimmt. Viele Menschen, die das gerne machen würden, kommen nicht zu Land. Ein weiteres wichtiges Thema in der Agrarökologie sind die Rechte der nichtmenschlichen Natur. In Ecuador und Bolivien stehen diese in der Verfassung, in Bolivien gibt es ein Gesetz zum Schutz der Mutter Erde. Natürlich werden diese nicht genügend umgesetzt, aber dass es sie gibt, ist eine grosse Errungenschaft.

Der Biolandbau ist gut verankert in der Schweiz. Braucht es da noch ein weiteres Konzept für eine nachhaltige Landwirtschaft?
In ihren Ursprüngen ist die Biolandwirtschaft aus einer ähnlichen Motivation heraus entstanden: Man möchte mit der Natur arbeiten statt gegen sie. Aber die biologische Landwirtschaft funktioniert immer stärker in den schon bestehenden Wertschöpfungsketten und in Marktgesetzen, die ihr eigentlich komplett zuwiderlaufen. Doch nicht die ökologischen Gesetzte müssen sich der Wirtschaft anpassen, sondern es muss umgekehrt gehen. Die Biolandwirtschaft riskiert, dass sie sich an die wirtschaftlichen Strukturen nur anpasst, anstatt sie zu verändern. Die Agrarökologie denkt dort weiter, indem sie Gerechtigkeit zum Thema macht.

Das Netzwerk Agroecology works! hat im letzten Herbst dem Bundesrat eine Petition zur Förderung der Agrarökologie übergeben. Welche weiteren Möglichkeiten siehst du, um die Agrarökologie zu stärken?
Ich sehe viele Ansatzpunkte, zum Beispiel in der Bildung an den Hochschulen. Da sagen jetzt alle, sie würden Agrarökologie machen. Aber ich sehen kaum etwas, was diesen Prinzipien gerecht wird. Effektiv dreht es sich um Effizienzfragen, damit sich auch die industrielle Landwirtschaft als agrarökologisch bezeichnen kann – beispielsweise über reduzierte Pestizidanwendung oder Düngereinsatz mit Präzisionslandwirtschaft. Aber es geht immer noch um Monokulturen und um den Anbau von Futterstatt Nahrungsmitteln. Es geht immer noch um globalisierte Märkte. Es wird nur eines der agrarökologischen Prinzipien verfolgt, die anderen werden ignoriert. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die fehlende politische Kohärenz, die jetzt langsam angegangen wird. Die subventionierte Fleischwerbung ist ein Beispiel dafür. Beim Schutz der Biodiversität müsste eine wirkliche Umstellung stattfinden, eine Umstellung auf vielseitige Agrarlandschaften, wo zum Beispiel Bäume und Hecken ein fester Bestandteil der Landschaft sind und nicht die Ausnahme.

Wenn ich dir zuhöre, habe ich den Eindruck, dass die Distanz zu den aktuellen agrarpolitischen Diskussionen gross ist.
Das mag sein, aber ich glaube trotzdem, dass wir uns an die planetaren Grenzen anpassen müssen. Wir sehen bereits, wie stark der Klimawandel auch die Schweiz beeinflusst. Wir können uns nicht zurücklehnen und sagen: Das sind schwierige Verhandlungen. Wenn wir eine Zukunft haben wollen, müssen wir transformativ denken. Wir müssen uns fragen, was es bedeutet, nachhaltig zu leben. Es reicht nicht, an zwei, drei Effizienzstellschrauben zu drehen. Es braucht eine Diskussion um tiefgreifende gesellschaftliche Themen, wie Überkonsum und Privilegien, die wir anscheinend nicht gerne führen. Aber das müssen wir tun. Es geht um Gerechtigkeit und auch um Demokratie.

Wie bringen wir diese Überlegungen in die landwirtschaftliche Praxis in der Schweiz?
Meine Erfahrung ist, dass Leute, die einen Praxisbezug haben, die theoretische Ebene nicht unbedingt brauchen. Aber wir brauchen sie im Dialog auf der gesellschaftlichen Ebene. Als politische Forderung ist Agrarökologie ein guter Rahmen. Bei den Tagen der Agrarökologie haben wir gesehen, dass viele verschiedene Leute und Organisationen ganz unterschiedliche Dinge tun. Doch alle können nach diesen Prinzipien arbeiten. Die meisten dieser Initiativen kommen aus der Bevölkerung und sind partizipativ organisiert. Der Begriff Agrarökologie bietet für solche Projekte eine Kontextualisierung und hat dennoch sehr starke Prinzipien. Die Alternativen sind vorhanden, und es ist unsere Aufgabe darüber zu sprechen und aufzuzeigen, dass es anders geht, indem man es anders macht.

Dieses Interview erschien in der Agricultura-Ausgabe 2/2022. Autor: Stephan Tschirren

Agrarökologie – funktioniert!

Wie sollen sich die Menschen in Zukunft ernähren? Was für eine Landwirtschaft braucht es dazu? Diese Fragen gehören zu den brennendsten politischen Themen. Die Agrarökologie bietet Lösungsansätze, das zeigen Erfahrungen aus dem globalen Süden.

Mit dem Krieg in der Ukraine hat das Thema noch einmal eine neue Dringlichkeit erhalten. Doch schon vorher waren die Herausforderungen gross. Angesichts der Klimakrise, der Biodiversitätskrise, der grossen Umweltprobleme ist der Handlungsbedarf offensichtlich. Die Landwirtschaft steht vor einem grundlegenden Wandel, sie muss ökologischer, gerechter und sozialer werden. Doch diesen Wandel können Bäuerinnen nicht allein schaffen. Dies ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, bei dem wir uns alle beteiligen müssen. Diesem Grundsatz folgt die Agrarökologie, sie öffnet den Fokus von der reinen Nahrungsmittelproduktion auf ein ganzheitliches Ernährungssystem und schliesst dort die landwirtschaftliche Praxis, die wissenschaftliche Forschung und die Gesellschaft mit ein.

Ein umfassender Blick aufs Ernährungssystem

Die Agrarökologie geht mit ihren 13 Prinzipien die nötigen Veränderungen im Ernährungssystem umfassend an. Grafik: HLPE-Report 2019

Agrarökologie versteht sich einerseits als wissenschaftliche Forschung, bei der die Landwirtschaft und das Ernährungssystem möglichst umfassend und breit angeschaut und inbesondere lokale Anbaumethoden oder Ansätze wie die Agroforstwirtschaft einbezogen werden. Andererseits ist Agrarökologie in der landwirtschaftlichen Praxis verankert, im Aufbau gesunder Böden, vielfältiger und widerstandsfähiger Betriebe mit lokaler Verankerung und geschlossenen Kreisläufen. Dabei werden die natürlichen Lebensgrundlagen nicht nur bewahrt, sondern langfristig aufgebaut. Schliesslich geht es bei der Agrarökologie auch um soziale Aspekte. Das Agrarund Ernährungssystem soll gerecht und nachhaltig sein. Es soll faire Einkom- men und gute Arbeits- bedingungen garantieren und kurze Wege zwischen Produzenten und Konsumentinnen ermöglichen.

Neu gegründet: Verein Agroecology works!

2019 haben sich in der Schweiz viele Organisationen, vorwiegend aus dem entwicklungspolitischen Bereich, zum Netzwerk Agroecology works! zusammengeschlossen. Das Ziel: die Agrarökologie auch in der Schweiz fördern. Im November 2021 fanden die «Tage der Agrarökologie » als schweizweite Veranstaltungsreihe statt. Was hinter dem Begriff steckt, konnte durch eine breite Palette von Veranstaltungen erlebt, verstanden und weitergedacht werden. Das Netzwerk umfasst viele Organisationen und Initiativen, die sich für ein nachhaltiges Ernährungssystem in der Schweiz einsetzen. Weil Agrarökologie nicht nur ein Konzept für die Entwicklungszusammenarbeit im globalen Süden ist, sondern auch in der Schweiz wichtige Impulse geben kann, engagiert sich die Kleinbauern- Vereinigung seit 2021 im Netzwerk. Mit einer Petition wurden Bundesrat und Parlament im Dezember 2021 aufgefordert, die Grundsätze der Agrarökologie als Grundlage der Land- und Ernährungswirtschaft in der Schweiz anzuerkennen. In seiner Antwort honoriert der Bundesrat die Agrarökologie international als entscheidenden Ansatz für die Transformation zu einem nachhaltigen Ernährungssystem. Jetzt muss Agrarökologie auch in der Schweiz noch weiter verankert werden. Um diesen Prozess voranzutreiben, engagiert sich die Kleinbauern-Vereinigung im Vorstand des im März 2022 neu gegründeten Vereins Agroecology works!

 

Dieser Artikel erschien in der Agricultura-Ausgabe 2/2022. Autor: Stephan Tschirren

 

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